Im Talmud findet sich in der Bava Kamma bei 113a folgende bemerkenswerte Passage:

Wenn ein Jisraélit und ein Nichtjude vor dir zu Gericht kommen, so sollst du, wenn du ihm nach jüdischem Gesetze Recht geben kannst, ihm Recht geben und zu diesem sagen, so sei es nach unserem Gesetze, und wenn nach dem Gesetze der weltlichen Völker, ihm Recht geben und zu diesem sagen, so sei es nach euerem Gesetze; wenn aber nicht, so komme ihm mit einer Hinterlist – so R. Jišma͑él; R. A͑qiba sagt, man dürfe ihm nicht mit einer Hinterlist kommen, wegen der Heiligung des [göttlichen] Namens.

Vorsicht vor voreiligen Schlüssen, denn im Urchristentum bis ins Mittelalter bediente man sich zur Auslegung der Bibel des sog. „Vierfachen Schriftsinns„:

  1. Literalsinn
  2. Allegorischer Sinn
  3. Tropologischer Sinn
  4. Anagogischer Sinn

Heutzutage wenden Juristen, und das dürfte kein Zufall sein, zur Interpretation von Gesetzen auch vier klassische Auslegungsmethoden an:

  1. Wortlaut
  2. Historische Auslegung
  3. Systematische Auslegung
  4. Teleologische Auslegung

Die Details kann ich mir sparen, denn nach diesem Vorspann dürfte klar sein, worauf ich hinaus will. Wenn der Wortlaut für die Partei spricht, die gewinnen soll, stellt man natürlich auf den Wortlaut ab. Wenn der Wortlaut gegen die Partei spricht, stellt man auf die Normgeschichte ab. Sprechen Wortlaut und Normgeschichte gegen die Partei, stellt man auf die Systematik ab. Sprechen alle drei Kriterien gegen die Partei, stellt man auf den Sinn (Telos) der Regelung ab. Was der Sinn einer Regelung ist, hängt davon ab, was man aus richterlicher Machtvollkommenheit zirkelschlüssig in ihn hineininterpretiert.

In der Juristenausbildung kursiert ein lustiges Akronym: W-U-R-S-T.

W – Wortlaut
U – Umgehungsgefahr
R – Risikosphäre (Sphärentheorie)
S – Schutzbedürfnis („Schweinehundtheorie„)
TTreu und Glauben

Auch dies ist nichts anderes, als eine Begründungsschablone, mit der man die sog. „Eindringtiefe“ signalisiert und scheinbar an Überzeungskraft gewinnt. Jurastudenten lernen bereits im 1. Semester, dass es auf das Ergebnis nicht ankommt, sondern nur auf die Begründung. Dies ist Naturwissenschaftlern nur schwer zu vermitteln. Erklären Sie das mal einem Ingenieur, der gerade die Statik einer Brücke berechnet. In Jura geht alles, weil alles gehen muss.

Heißt das, dass heutige Richter grundsätzlich den Prozessausgang manipulieren, so wie es ihnen gerade gefällt? Nein, natürlich nicht. Richter arbeiten im Massenbetrieb. Jeden morgen kommt auf der Geschäftsstelle ein Justizbediensteter mit gebücktem Rücken und einem Wägelchen vorbei, auf dem sich stapelweise Akten befinden, die er gemäß dem Geschäftsverteilungsplan an die einzelnen Dezernenten verteilt. Richtern sind sowohl die Parteien als auch der Prozessausgang grundsätzlich egal. Ergebnismanipulation ist die Ausnahme. In Prozessen mit politischem Einschlag ist dies jedoch nicht so klar.

Ein herrliches Beispiel ist der sog. Einkaufspassagen-Fall. RAF-Terroristen, Staatsfeinde, hatten einen Bankraub begangen und flohen mit der Beute in eine Einkaufspassage. Dort kam es zu einem Schusswechsel mit der Polizei, woraufhin unter anderem eine unbeteiligte Passantin getötet wurde. Der BGH entschied, dass ein Raub mit Todesfolge auch nach Vollendung – aber noch vor Beendigung – der Tat begangen werde könne. Das mag bei dieser Konstellation auch noch nachvollziehbar gewesen sein, aber man muss den Fall nur leicht verändern, um zu sehen, wo das Problem liegt. Wären die Räuber in einem Fluchtwagen unterwegs gewesen, mit der Polizei auf den Fersen, und hätten 50km entfernt eine Frau auf dem Zebrastreifen überfahren, wäre dies demnach auch noch ein Raub mit Todesfolge gewesen. Man kann den Sachverhalt natürlich immer weiter ins Extrem treiben und diese Lösung wird immer absurder. Dass die Richter bei den RAF-Terroristen gezielt in die juristische Trickkiste gegriffen haben, ist zwar nicht sicher, aber auch nicht auszuschließen. Dazu muss man sich vor Augen führen, dass das StGB damals 124 Jahre alt war, und solche Fälle bislang anders entschieden wurden.

Dazu noch ein Zitat aus der Urteilsbegründung:

Mit dem Schutzzweck des § 251 StGB ist es daher unvereinbar, einen Raubtäter von der Sanktion auszunehmen, der Gewalt auch noch nach der Wegnahmehandlung zur Sicherung der Beute oder seiner Flucht anwendet und dadurch den Tod eines anderen verursacht. Diese Auffassung steht in Einklang mit der Entscheidung des Gesetzgebers, bei Gewaltanwendung mit Todesfolge nach einem Diebstahl zwischen dessen Vollendung und Beendigung gemäß §§ 252, 249, 251 StGB diesen hohen Strafrahmen zur Anwendung zu bringen. Daß nach der bisherigen Rechtsprechung auch Raub Vortat des § 252 StGB sein kann (BGHSt 21, 377, 379), so daß auf diesem Wege Gewalt in der Beendigungsphase einer Raubtat ohnehin von § 251 StGB erfaßt sein kann, ist letztlich kein durchgreifendes Argument gegen die vom Senat vertretene Auffassung.