Im Vorfeld der bayrischen Landtagswahl ist überraschend ein Flugblatt aus dem Jahre 1988 aufgetaucht, das dem Vorsitzenden des Koalitionspartners angelastet wird. Dieser wurde daraufhin vom bayrischen Ministerpräsidenten aufgefordert, sich – trotz Unschuldsvermutung – zu entlasten. In der Folge nahm der Fall noch eine überraschende Wendung, denn für verantwortlich erklärte sich nun der Bruder des Beschuldigten. Wer hätte damit gerechnet?

Dass die Aktion des/der Jugendlichen geschmacklos und ungehörig war, ist unstreitig.

Um das Motiv aufzuklären, möchte ich auf den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 1988/89 hinweisen, denn dieses Detail fand bislang noch zu wenig Beachtung in den Medien. Das damalige Motto dieses Wettbewerbs lautete „Unser Ort – Heimat für Fremde“. Die Körber-Stiftung führt dazu aus:

Die Ausschreibung von 1988 greift unter dem Titel „Unser Ort – Heimat für Fremde?“ ein Thema auf, das durch die Wahlerfolge der „Republikaner“ im gleichen Jahr eine beklemmende Aktualität gewinnt. Die historische Erforschung des Zusammenlebens von Einheimischen und Fremden in Deutschland soll das Verständnis zwischen den Kulturen fördern. Aus welchen Gründen und mit welchen Erfahrungen kamen Fremde? Wie reagierten die Einheimischen? Wie bewältigten Fremde die neue Situation? Wie lange blieben sie in ihrer neuen Heimat Fremde?

Die Jugendlichen nähern sich dem Thema vor allem über die Geschichte der eigenen Familie. Dabei entdecken sie, dass ihre Vorfahren aufgrund von Krieg, Verfolgung oder sozialer Not häufig selbst gezwungen waren, die alte Heimat zu verlassen. Viele Beiträge befassen sich mit der Geschichte der Flüchtlinge und Vertriebenen der Nachkriegszeit – eine Geschichte, die in den Familien noch unmittelbar präsent ist und zur Auseinandersetzung über das Verständnis für Fremde anregt.

Die ausländischen Jugendlichen erzählen von ihren Integrationsproblemen, von familiären Konflikten und vom Gefühl der inneren Zerrissenheit zwischen alter und neuer Heimat. So entsteht ein eindrucksvolles Bild des kulturellen Verständnisses von „Heimat“ und „Fremdheit“.

Was 1988 als Preise ausgeschrieben war, ist nicht überliefert, es waren jedoch regelmäßig Geldpreise. Die 50 besten Beiträge wurden üblicherweise im Amtssitz des Bundespräsidenten prämiert. Die Aufmachung deutet darauf hin, dass das Flugblatt thematisch durch den Wettbewerb motiviert worden war.

Wie sieht es mit der Strafbarkeit aus?

In Betracht kommt § 130 StGB, der seit seiner Einführung mehrfach ergeweitet wurde. In der damaligen Fassung lautete er:

Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angreift, daß er

1. zum Haß gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt,
2. zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder
3. sie beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet,

wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

Diese Norm ist offenkundig nicht einschlägig. Es wird insbesondere niemand beschimpft, verächtlich gemacht, oder verleumdet.

Einschlägig könnte die Beleidigung von NS-Opfern gem. § 185 StGB sein. Erforderlich wäre jedoch ein  Strafantrag gewesen, der offenkundig nicht vorlag. Was man noch überlegen könnte, ist eine Verunglimpfung des Bundespräsidenten gem. § 90 StGB durch die Verhöhnung seines Wettbewerbs, aber auch hier fehlte es an der entsprechenden Ermächtigung. Damit haben wir im Ergebnis einen „Dummenjungenstreich“ und ein unangenehmes Bauchgefühl, aber strafrechtlich* nichts. Heute sähe die Bewertung vermutlich anders aus, denn dafür hat die Regierung Kohl im Jahre 1994 durch die Erweiterung der Volksverhetzung um die Tatbestandsmerkmale „Billigen“ und „Verharmlosen“ von Handlungen der NS-Herrschaft gesorgt. Das gilt u.U. auch für Satire.

* Zivilrechtlich war 1988 ein Unterlassungsanspruch denkbar, denn ein Zivilsenat des BGH hatte in einer Entscheidung aus dem Jahre 1979 durch seine Machtfülle, andere nennen es juristischen Trick, das Erfordernis des Strafantrags ausgehebelt. Seit 1994 sind solche Umgehungskonstruktionen überholt.

 

Nachtrag: Offenbar wurde das Flugblatt explizit in einer Arbeit erwähnt, die von einem Mitschüler für besagten Wettbewerb angefertigt wurde. Der Schüler gewann damit sogar den 2. Preis. Das Flugblatt war daher hervorragend als „Kompromat“ geeignet. Die Geschichte mit dem anonymen Lehrer, der sich angeblich aus Verärgerung gemeldet hat, könnte auch eine Erfindung des bayrischen Verfassungsschutzes sein. Dort landen solche Verwahrstücke auch.

Update (01.09.2023): Damals soll er auch noch behauptet haben, die Wehrmacht habe sich „ehrenhaft verhalten„. Bei der Bewertung solcher Aussagen kommt es natürlich immer auf den Kontext an. Bezog er sich damit vielleicht auf die Ehrenerklärungen Eisenhowers und Adenauers? Die umstrittene Wehrmachtsausstellung kann er jedenfalls nicht gemeint haben, denn die erfolgte erst ein halbes Jahrzehnt später. Sicherlich ein schwieriges Thema.

Update (03.09.2023: Mittlerweile wurden auch die ominösen „25 Fragen“ veröffentlicht. Ich fand die Version des Postillion besser.