Nachdem die Diskussion über die Anwendung des Tatbestands der Beleidigung aufgrund eines Beschlusses des LG Berlin jüngst an Fahrt aufgenommen hat, möchte ich einen Abschnitt zitieren, den Adolf Stölzel in seinem Klassiker „Schulung für die civilistische Praxis“ in Berlin vor 125 Jahren verfasst hat.
Unsere Vorfahren schätzen das feierlich gesprochene Wort des Mannes hoch: „Ein Mann, ein Wort!“. Wenn ein Kläger etwas vor Gericht behauptete, so galt das demgemäß an sich schon durch die Behauptung eines ehrlichen Mannes als glaubhaft gemacht; zur Bestärkung konnte er noch einen Eid darüber schwören, oder er konnte Eideshelfer bringen, die ihm die behauptete Tatsache oder wenigstens seine Glaubwürdigkeit bestätigten. Dieser Gesichtspunkt der besonderen Bedeutung des deutschen Manneswortes ist noch lebend in einem Verhältnis, an das Sie schwerlich jetzt denken, nämlich in allen Beleidigungsangelegenheiten. Nach altdeutscher Auffassung war eine Beleidigung ein präsumtiv wahres Wort dessen, der sie gesprochen hatte. Sie sitzt auf dem Beleidigten, sie bringt hervor, dass der Beleidigte, wie der altdeutsche Prozess sich ausdrückt, in seinem Landrecht beeinträchtigt ist, dass er sein Landrecht verloren hat; er ist nicht mehr ein frommer, ein freier, ein unbescholtener Mann, er ist vielmehr ein bescholtener Mann, und er kann erst wieder in sein altes Recht eintreten, wenn die Beleidigung von ihm weggeschafft ist. Da nun bei den alten Deutschen das „Schlagen“ immer eine große Rolle spielte, so erachtete man es für nötig, den Beleidigten „der Beleidigung zu entschlagen“. Dieses Entschlagen geschah in alter Zeit durch den Zweikampf. Er ist die Entscheidung des Prozesses, und wenn der Kläger Sieger bleibt, hat er sich der Beleidigung entschlagen. Die Entschlagung geschieht aber später auch vor Gericht und deshalb entschlägt das Gericht im Prozesse den Beleidigten der Beleidigung wenn der Beleidiger sie nicht wahr macht. Ja, der Beleidiger muss sogar dazu herhalten, sich selbst zu schlagen, denn ich kann Ihnen ein Erkenntnis aus dem Jahre 1528 mitteilen welches sagt. „Da der Beklagte einen Schaden auf die Klägerin nicht bringen konnte, ist vor Recht geweist, dass der Beklagte soll hertreten vor die Klägerin und soll sich dreimal auf seinen Mund schlagen; derhalben ist die Klägerin wieder in ihr Landrecht gesetzt, unschädlich an ihren Ehren und Glimpfen.“ Und über ein Erkenntnis, welches eine solche Entschlagung von der Beleidigung ausspricht – es stammt aus dem Jahre 1506 – berichtet das Gerichtsbuch: „Das Gericht lässt die Entschlagung zu; nach solcher Entschlagung ist der Kläger wieder in sein Landrecht gesetzt und ist so fromm nach den Scheltworten als er davor gewesen, und mag nun wiederum gehen“ – ich bitte, beachten Sie die schöne Alliteration – „zu Ruhme und Rathe, zu Kirchen und Klausen und zu allen Ehren.“
Die klassische Beleidigung war eine Tatsachenbehauptung im Sinne der §§ 186, 187 StGB. Werturteile, im Sinne von § 185 StGB, waren nicht erfasst. Die Kriminalisierung derselben ist aber nicht die einzige Neuerung. Mittlerweile sieht die Justiz auch das Wort eines „ehrlichen Mannes“ nicht mehr von vornherein als glaubhaft an. Insoweit gilt heutzutage bei Zeugenaussagen die sog. „Nullhypothese“, die auf RiBGH a.D. Armin Nack zurückgeht.
In einer Urteilsbegründung sieht der entsprechende Textbaustein wie folgt aus:
„Es ist deshalb erforderlich (BGH v. 30.7.1999 – 1 StR 618/98, NJW 1999, 2746; BVerfG v. 30.4.2003 – 2 BvR 2045/02, NJW 2003, 2444), in erster Linie Anhaltspunkte zu finden, die dafür sprechen, dass die Auskunftsperson die Wahrheit sagt (BGH v. 29.4.2003 – 1 StR 88/2003, NStZ-RR 2003, 245). Dabei nimmt man zunächst an, die Aussage sei unwahr (sog. „Nullhypothese“ – BGH, a.a.O.). Diese Annahme überprüft man anhand verschiedener Hypothesen. Ergibt sich, dass die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen, und es gilt die Alternativhypothese, dass es sich um eine wahre Aussage handelt. Dies bedeutet, dass jede Zeugenaussage solange als unzuverlässig gilt, als die Nullhypothese nicht eindeutig widerlegt ist.“
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