Nach einem Urteil in einem Gruppenvergewaltigungsprozess in Hamburg, werden Richterin und Anwälte laut Spiegel bedroht. Juristen beklagen, Urteile würden zunehmend nicht mehr akzeptiert. Das ist eine tragische Entwicklung. Dass Juristen sie beklagen, ist nachvollziehbar, denn Juristen klagen gerne.

Auf der einen Seite gibt es sicherlich auch Richter, die sich bisweilen durch lächerliche Schutzbehauptungen hinter die Fichte führen lassen, denn sie sind auch nur Menschen. Dass es in solchen Fällen zu Freisprüchen kommt, die der Öffentlichkeit schwer zu vermitteln sind, ist wenig überraschend. Auf der anderen Seite gibt es systemische Vorgaben, z.B. durch das Jugendstrafrecht, die Richter natürlich nicht ignorieren können. In solchen Fällen sind Urteile, die von der Öffentlichkeit, vertreten durch die BILD-Zeitung, als zu milde empfunden werden, diesen Richtern nicht vorzuwerfen. Handwerklich sind die Urteile zumeist in Ordnung. Die Richter, die geurteilt haben, sind letztlich nur Überbringer der Botschaft. Die Botschaft lautet: Der Gesetzgeber ist schuld!

Es gibt allerdings noch eine Reihe weiterer Gründe, warum deutsche Richter bisweilen Urteile fällen, die bei normalen Bürgern auf Unverständnis treffen:

1. Negativselektion
Wer mit Glück das Abitur bestanden hat, steht vor der Frage, was soll ich studieren? Für Medizin reicht die Note nicht. MINT-Fächer, die mit Mathematik, Physik oder Chemie zu tun haben, sind zu kompliziert. Bleiben noch die Geisteswissenschaften. Bei den Pseudo-Wissenschaften, die einst mit brotloser Kunst gleichgesetzt wurden, gibt es jedoch ein Fach, das traditionell ein sehr hohes gesellschaftliches Ansehen genießt: Jura. Man könnte ein Star-Anwalt werden und viel Geld verdienen, so wie man es aus US-Fernsehserien kennt. Wer die juristische Ausbildung mit Prädikatsnoten abschließt (15%), heuert in der Regel dann auch bei einer amerikanischen Großkanzlei an, denn dort lockt ein Einstiegsgehalt von ca. 150.000 €. Man kann sich allerdings auch für den Staatsdienst entscheiden. Dort muss man in einem sog. „Assessement-Center“ u.a. in Gruppenspielen, die von Psychologen überwacht werden, einer charakterlichen Zuverlässigkeitsprüfung unterziehen, und darf im Erfolgsfall für ein Einstiegsgehalt ca. 57.500 € die Robe mit dem Samtbesatz umwerfen und bis zum Erreichen des Pensionsalters Akten bearbeiten. Dafür muss man sich in Hessen wenigstens nicht mit dem Reinigungspersonal rumschlagen.

2. Juristische Ausbildung
Als Jurastudent ist das Erste, was man lernt, dass es nicht auf das Ergebnis ankommt, sondern auf die Begründung. Erklären Sie das mal einem Statiker. Aber es kommt noch besser: Das Strafrecht, wie es an der Universität gelehrt wird, ist de facto die Lehre vom Freispruch. An diesem Motto orientieren sich auch die Fallbeispiele: Der Beschuldigte hat regelmäßig den Straftatbestand nicht erfüllt. Hat er ihn leider ausnahmsweise doch erfüllt, war er regelmäßig gerechtfertigt. Fehlt es leider ausnahmsweise an einer Rechtfertigung, greift regelmäßig ein Entschuldigungsgrund. Entsprechend dieses Dreiklangs fallen später in der Praxis bisweilen – rein zufällig, oder auch nicht – dann auch die Einlassungen der Angeklagten aus, wie z.B. in diesem merkwürdigen Fall:

Nach den Feststellungen des Landgerichts trafen der Angeklagte und der Geschädigte, die beide in ihrer Freizeit der Jagd nachgingen, in den frühen Abendstunden auf einem Feldweg aufeinander. Der Angeklagte, der sich in einer depressiven Phase befand und alkoholisiert war, saß, nachdem er in suizidaler Absicht unter Mitführung einer mit sieben Patronen geladenen halbautomatischen Pistole Kal. 9 mm in den Wald gegangen war, am Wegesrand und schlief, was den Geschädigten, der gerade von der Jagd zurückkam, an der Weiterfahrt hinderte. Er weckte den Angeklagten mit einem Tritt und forderte ihn mit unfreundlichen Worten auf, sich zu entfernen. Der darüber verärgerte Angeklagte trat daraufhin dem Geschädigten in das Gesäß und beschimpfte ihn. Der Geschädigte, nun seinerseits erbost, rief „Na warte du mal“ und schickte sich an, seine Flinte aus dem Fahrzeug zu holen. Der Angeklagte, der Angst vor einem Angriff hatte, sprühte dem Geschädigten Pfefferspray ins Gesicht. Dieser zeigte sich jedoch unbeeindruckt, erfasste die Waffe und hielt sie in Richtung des Angeklagten. Aus Angst vor einem Angriff schoss der Angeklagte nun zwei Mal in Richtung des Geschädigten, wobei er ihn am Oberarm traf. Der Geschädigte hantierte gleichwohl weiter an seiner doppelläufigen Flinte, um sie zu laden oder schussbereit zu machen. Der Angeklagte gab nunmehr einen Warnschuss in die Luft ab, ohne dass der Geschädigte hierauf eine Reaktion zeigte. Da der Angeklagte befürchtete, dass es dem Geschädigten alsbald gelänge, die Waffe zu laden und schussfertig zu machen, gab er nunmehr einen gezielten Schuss auf den Rumpf des Geschädigten ab. Der Geschädigte zeigte sich zunächst auch hiervon unbeeindruckt, weshalb der Angeklagte im Anschluss auch noch in dessen Bein schoss. Nunmehr hielt der Geschädigte inne und ließ das Gewehr sinken. Der Angeklagte nahm es ihm ab und entfernte sich. Der Geschädigte verstarb an den Folgen des Rumpfschusses.

Tatbestand: Mord (-), keine Mordmerkmale. Totschlag (+), aber Rechtfertigung (+) Notwehr. Ferner kommen noch die Entschuldigungsgründe Psychische Probleme und Alkoholisierung in Betracht. Ergebnis: Unterlassene Hilfeleistung. Die 9 Monate Freiheitsstrafe wurden natürlich mit der U-Haft verrechnet.

3. Mittelbare Konsequenzen
Natürlich möchten auch Richter gerne eine saubere Personalakte haben, insbesondere die Richter auf Probe. Die Bewährungszeit für Proberichter beträgt übrigens 5 Jahre. Ihnen droht, als Damokles-Schwert, nach Ende der Probezeit der Wechsel zur Staatsanwaltschaft. Der Worst Case für Richter ist der sog. „Edeka-Vermerk“ (Ende der Karriere). Neuerdings besteht für Richter zudem auch noch die Gefahr, als „extremistisch“ eingestuft zu werden. Solche Sachzwänge können schon mal dazu führen, dass Richter nicht die Entscheidung treffen, die sie selbst für richtig halten, sondern die Entscheidung, von der sie glauben, dass sie der Dienstherr für richtig hält. Das ist opportunistisch, aber menschlich. Damit hatten auch schon die Amtsvorgänger zu kämpfen.

 

Update (07.12.2023): Auch der Experte unter den Experten, VorsRiBGH a.D. Prof. Dr. Fischer, weist erwartungsgemäß alle Vorwürfe zurück. Der Leser wird informiert: „Das von Gustav Radbruch (SPD – Anm. d. Verf.) entworfene JGG wurde vor genau 100 Jahren (Weimarer Republik – Anm. d. Verf.) als Meilenstein einer menschenwürdigen Strafrechtspflege eingeführt“. Wenn es aus der Weimarer Republik ist und von der SPD stammt, muss es gut sein. Nur wenige Jahre später hatte man mit dem Phänomen der Bandenkriminalität von Jugendlichen zu kämpfen, aber dies hatte natürlich andere Ursachen.