Wenn man aufgrund der täglichen Berichterstattung nach dem Begriff „Boykotthetze“ sucht, findet man einen Hinweis auf einen Eintrag in der Wikipedia, der die Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 erwähnt. Wenn man sich diese Verfassung anschaut, so dürfte zumindest Verfassungsrechtlern die Spucke wegbleiben. Sie entspricht in weiten Teilen fast 1:1 dem westdeutschen Grundgesetz und geht sogar, was die Bürgerrechte anbetrifft, in einigen wichtigen Bereichen weit darüber hinaus. Dass es in der Realität leider ganz anders lief, dazu später. Gehen wir erst mal die Artikel der Reihe nach durch.

Artikel 1 regelt den Föderalismus und entspricht insoweit unserem Art. 20 Abs. 1 GG. Beide Regelungen beruhen auf dem Potsdamer Abkommen. Ferner wird definiert, dass es nur eine Staatsangehörigkeit gibt. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass im Dritten Reich zwischen Staatsangehörigen und Staatsbürgern unterschieden wurde. Eine entsprechende Regelung fehlt im Grundgesetz. Art. 116 GG kommt ihr am nächsten.

Artikel 3 entspricht unserem Art. 20 Abs. 2 GG. Darüber hinaus werden jedoch auch noch Volksbegehren und Volksentscheide erwähnt, die in unserem Grundgesetz fehlen, weil es dafür angeblich „gute Gründe“ gab, die offenbar auch 75 Jahre später immer noch Geltung besitzen. Die ewigen Deutschen.

Artikel 4 entspricht unserem Art. 20 Abs. 3 GG.

Artikel 5 entspricht unserem Art. 25 GG.

Artikel 6 war der Anknüpfungspunkt für meine Suche und lautet:

Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleichberechtigt. Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches. Ausübung demokratischer Rechte im Sinne der Verfassung ist keine Boykotthetze.

Satz 1 entspricht unserem Art. 3 Abs. 1 GG. Der Rest ist für unsere bundesdeutsche Regelungstechnik ungewöhnlich, denn er vermischt die Verfassung mit dem Strafrecht. Ob darin lediglich ein Auftrag für die Schaffung der entsprechenden Strafnorm lag, oder bereits der Tatbestand selbst, war zumindest auslegungsbedürftig. Die DDR-Justiz tendierte offenbar zu Letzterem. In der BRD wurde 1960 der Tatbestand „Volksverhetzung“ eingeführt, § 130 StGB.

Artikel 7 regelt die Gleichberechtigung und entspricht damit unserem Art. 3 Abs. 2 GG.

Artikel 8 regelt die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Postgeheimnis und die Freizügigkeit. Dies entspricht Art. 10, 11 und 13 GG. Wer dies für eine Farce hält, sei an die Abhöraffäre aus dem Jahre 1963 erinnert, und an den Umstand, dass heutzutage in der BRD auch schon wegen Bagatelldelikten Hausdurchsuchungen angeordnet werden (Verhältnismäßigkeit?). Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.

Artikel 9 regelt Meinungs- und Versammlungsfreiheit und entspricht damit unseren Art. 5 und 8 GG.

Artikel 10 ist das Auslieferungsverbot, das bei uns in Art. 16 Abs. 2 GG steht, wobei wir mittlerweile sogar gewisse Ausnahmen erlauben.

Artikel 11 regelt die Behandlung ethnischer Minderheiten. Eine solche Regelung fehlt im Grundgesetz.

Artikel 12 regelt die Vereinsfreiheit. Bei uns ist das Art. 9 GG.

Artikel 14 betrifft die Gewerkschaftsfreiheit. Bei uns finden wir eine solche Regelung in Art. 9 Abs. 3 GG.

Nun wird es spannend. Ich zitiere die Normen daher direkt.

Artikel 15. Die Arbeitskraft wird vom Staat geschützt.

Das Recht auf Arbeit wird verbürgt. Der Staat sichert durch Wirtschaftslenkung jedem Bürger Arbeit und Lebensunterhalt. Soweit dem Bürger angemessene Arbeitsgelegenheit nicht nachgewiesen werden kann, wird für seinen notwendigen Unterhalt gesorgt.

Artikel 16. Jeder Arbeitende hat ein Recht auf Erholung, auf jährlichen Urlaub gegen Entgelt, auf Versorgung bei Krankheit und im Alter.

Der Sonntag, die Feiertage und der 1. Mai sind Tage der Arbeitsruhe und stehen unter dem Schutz der Gesetze. Der Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der arbeitenden Bevölkerung, dem Schutze der Mutterschaft und der Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Invalidität, Arbeitslosigkeit und sonstigen Wechselfällen des Lebens dient ein einheitliches, umfassendes Sozialversicherungswesen auf der Grundlage der Selbstverwaltung der Versicherten.

Schön wäre es, wenn wir ein Recht auf Arbeit, Erhohlung (= Kur), Kranken- und Altersversorgung auch im Grundgesetz hätten. Wir haben zwar in Art. 20 Abs. 1 GG das Sozialstaatsprinzip, was sich in 12 Sozialgesetzbüchern widerspiegelt, aber diese konkreten Rechte besitzen keinen Verfassungsrang. Was in der DDR-Verfassung allerdings fehlt ist unser Art. 1 GG, der schönste Programmsatz der Welt, was nicht heißt, dass von der Menschwürde in der DDR keine Rede war. In den Artikeln 18 und 19 wird ein menschenwürdiges Dasein im Bezug auf Lohn und Wirtschaftsordnung explizit erwähnt.

Ich kann hier natürlich nicht die gesamte Verfassung durchgehen. Artikel 22 ist z.B. die Eigentumsgarantie, was bei uns Art. 14 Abs. 1 GG entspricht. Man sollte jedoch erkennen, dass die DDR-Verfassung von 1949 mit dem Grundgesetz in weiten Teilen übereinstimmt. Lediglich die Artikel sind anders sortiert. Es handelt sich damit nicht um eine zweitklassige Verfassung eines totalitären Unrechtsstaates, sondern um eine moderne freiheitliche Verfassung, die in dieser Form vermutlich auch in der Bundesrepublik funktioniert hätte. Was die DDR daraus gemacht hat, steht auf einem anderen Blatt, sollte uns aber insoweit zu denken geben. Auch eine moderne freiheitliche Verfassung lässt sich pervertieren, solange die drei Staatsgewalten dabei mitspielen. Die drei Staatsgewalten in der DDR waren in der Praxis fast ausschließlich mit Alt-Kommunisten aus der Weimarer Republik und sog. „Antifaschisten“ besetzt.

Im Jahre 1968 haben diese Leute der DDR eine neue Verfassung gegeben, die von totalitärer marxistischer Ideologie nur so strotzt. Diese Verfassung entspricht auf den ersten Blick dem, was man sich heute gemeinhin unter dem „Unrechtsstaat“ DDR vorstellt. Die Präambel sagt im Prinzip schon alles:

Getragen von der Verantwortung, der ganzen deutschen Nation den Weg in eine Zukunft des Friedens und des Sozialismus zu weisen, in Ansehung der geschichtlichen Tatsache, daß der Imperialismus unter Führung der USA im Einvernehmen mit Kreisen des westdeutschen Monopolkapitals Deutschland gespalten hat, um Westdeutschland zu einer Basis des Imperialismus und des Kampfes gegen den Sozialismus aufzubauen, was den Lebensinteressen der Nation widerspricht, hat sich das Volk der Deutschen Demokratischen Republik, fest gegründet auf den Errungenschaften der antifaschistisch – demokratischen und der sozialistischen Umwälzung der gesellschaftlichen Ordnung, einig in seinen werktätigen Klassen und Schichten das Werk der Verfassung vom 7. Oktober 1949 in ihrem Geiste weiterführend, und von dem Willen erfüllt, den Weg des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit, der Demokratie, des Sozialismus und der Völkerfreundschaft in freier Entscheidung unbeirrt weiterzugehen, diese sozialistische Verfassung gegeben.

Zum Vergleich, die Präambel von 1949:

Von dem Willen erfüllt, die Freiheit und die Rechte des Menschen zu verbürgen, das Gemeinschafts- und Wirtschaftsleben in sozialer Gerechtigkeit zu gestalten, dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen, die Freundschaft mit allen Völkern zu fördern und den Frieden zu sichern, hat sich das deutsche Volk diese Verfassung gegeben.

An dieser Stelle möchte ich auch noch an die ursprüngliche Präambel des Grundgesetzes der BRD aus dem Jahre 1949 erinnern:

Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk in den Ländern Baden, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern, um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.

Mit der „freien Selbstbestimmung“ gab es damals leider noch Probleme. Miesmacher behaupten, die gäbe es noch heute.

 

P.S.: In der BRD ist die „Boykotthetze“ in bestimmten Fällen (z.B. bei einer „persona non grata“) erlaubt. Das Bundesverfassungsgericht hat dies im Jahre 1958 in der berühmten Lüth-Entscheidung festgestellt. In der DDR brauchte man das nicht, weil diesen Personen von vornherein die Tätigkeit versagt war.