Ein Beitrag auf dem Medienportal Nius, das u.a. von dem umstrittenen Journalisten Julian R. betrieben wird, gibt Anlass zu einer Klarstellung. Es bleibt Julian R. natürlich unbenommen private Rechtsansichten zu äußern. Rechtsansichten sind keine Tatsachen und damit dem Beweise nicht zugänglich.

Es geht mir dabei um folgende Passage:

„Die militärische Selbstverteidigung beinhaltet immer eine Fragestellung, [..], nämlich das Aufwiegen von Leben: Wie viele Soldaten darf man in den Tod schicken, damit Zivilisten in Frieden leben können? Wie viele Zivilisten darf man töten, damit die eigene Zivilbevölkerung wieder Frieden finden kann? Wie viele (auch unbeteiligte) Leben darf man nehmen, um Leben zu schützen? Logischerweise kann man diese Fragen nicht mit Zahlen oder Quoten beantworten, sondern nur mit moralischen Abwägungen, die schrecklich sind. Die wichtigste moralische Abwägung, [..], lautet: Natürlich darf ein Staat – sogar mit großer Rücksichtslosigkeit – auch Zivilisten töten, wenn die Selbstverteidigung das zwingend nötig macht. Nicht gezielt oder gar aus Sadismus, aber aus strategischem Überlebenskalkül. Briten und Amerikaner hielten es für geboten und moralisch vertretbar, den Willen der deutschen Zivilbevölkerung durch Flächenbombardements von Städten zu brechen. Sie nahmen den Tod hunderttausender Zivilisten nicht nur in Kauf, sie verursachten ihn ganz bewusst, weil sie der (richtigen) Überzeugung waren, dass es ein befreites und friedliches Europa nur geben könne, wenn Deutschland in jeder Hinsicht gebrochen wäre.“

Im Zweiten Weltkrieg galt die Haager Landkriegsordnung aus dem Jahre 1907. In Art. 25 hieß es:

Es ist untersagt, unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude, mit welchen Mitteln es auch sei, anzugreifen oder zu beschießen.

Gerade wegen den umstrittenen Flächenbombardements deutscher Städte und nicht zuletzt der Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki wurden im Jahre 1949 das Genfer Abkommen geschlossen, um jegliche „Loopholes“ zu beseitigen. Dieses Abkommen wurde seither immer wieder durch Zusatzprotokolle erweitert. In Art. 51 des Zusatzprotokolls I aus dem Jahre 1977 steht:

1. Die Zivilbevölkerung und einzelne Zivilpersonen geniessen allgemeinen Schutz vor den von Kriegshandlungen ausgehenden Gefahren. Um diesem Schutz Wirksamkeit zu verleihen, sind neben den sonstigen Regeln des anwendbaren Völkerrechts folgende Vorschriften unter allen Umständen zu beachten.

2. Weder die Zivilbevölkerung als solche noch einzelne Zivilpersonen dürfen das Ziel von Angriffen sein. Die Anwendung oder Androhung von Gewalt mit dem hauptsächlichen Ziel, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, ist verboten.

3. Zivilpersonen geniessen den durch diesen Abschnitt gewährten Schutz, sofern und solange sie nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen.

4. Unterschiedslose Angriffe sind verboten. Unterschiedslose Angriffe sind

a) Angriffe, die nicht gegen ein bestimmtes militärisches Ziel gerichtet werden,
b) Angriffe, bei denen Kampfmethoden oder ‑mittel angewendet werden, die nicht gegen ein bestimmtes militärisches Ziel gerichtet werden können, oder
c) Angriffe, bei denen Kampfmethoden oder ‑mittel angewendet werden, deren Wirkungen nicht entsprechend den Vorschriften dieses Protokolls begrenzt werden können

und die daher in jedem dieser Fälle militärische Ziele und Zivilpersonen oder zivile Objekte unterschiedslos treffen können.

5. Unter anderem sind folgende Angriffsarten als unterschiedslos anzusehen:

a) ein Angriff durch Bombardierung – gleichviel mit welchen Methoden oder Mitteln – bei dem mehrere deutlich voneinander getrennte militärische Einzelziele in einer Stadt, einem Dorf oder einem sonstigen Gebiet, in dem Zivilpersonen oder zivile Objekte ähnlich stark konzentriert sind, wie ein einziges militärisches Ziel behandelt werden, und
b) ein Angriff, bei dem damit zu rechnen ist, dass er auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen.

6. Angriffe gegen die Zivilbevölkerung oder gegen Zivilpersonen als Repressalie sind verboten.

7. Die Anwesenheit oder Bewegungen der Zivilbevölkerung oder einzelner Zivilpersonen dürfen nicht dazu benutzt werden, Kriegshandlungen von bestimmten Punkten oder Gebieten fernzuhalten, insbesondere durch Versuche, militärische Ziele vor Angriffen abzuschirmen oder Kriegshandlungen zu decken, zu begünstigen oder zu behindern. Die am Konflikt beteiligten Parteien dürfen Bewegungen der Zivilbevölkerung oder einzelner Zivilpersonen nicht zu dem Zweck lenken, militärische Ziele vor Angriffen abzuschirmen oder Kriegshandlungen zu decken.

8. Eine Verletzung dieser Verbote enthebt die am Konflikt beteiligten Parteien nicht ihrer rechtlichen Verpflichtungen gegenüber der Zivilbevölkerung und Zivilpersonen, einschliesslich der Verpflichtung, die in Artikel 57 vorgesehenen vorsorglichen Massnahmen zu treffen.

Eine Nebenfolge dieser Vereinbarung ist, dass dadurch die Rechtsposition von sog. „Partisanen“ gestärkt wird, denn die Grenze zwischen Zivilisten und Kombattanten, ist nicht immer trennscharf, wenn sie zufällig gerade keine Waffe in den Händen tragen. Genau das dürfte ganz konkret auch das Problem sein, um das gerade auf europäischer Ebene gestritten wird. Hier zeigt sich ein Nachteil, wenn man sich zwanghaft zu jedem Konflikt positionieren muss. Derweil blockieren die USA, die als Einzige vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, eine Resolution für humanitäre Hilfe im UN-Sicherheitsrat. Passt!

Nachtrag (01.11.2023): Bei NIUS hat man mittlerweile erkannt, dass Julian R. überzogen haben könnte.

 

Exkurs: Mit dem Genfer Abkommen wurden auch die sog. „Reprisals“ (Vergeltungsmaßnahmen) geächtet, die im Zweiten Weltkrieg – auch auf Seiten der Alliierten – zum Einsatz kamen. Vgl. dazu u.a. das britische „Manual of Military Law“ aus dem Jahre 1929: