Die graue Eminenz der CDU, Dr. Wolfgang Schäuble, ist verstorben. Während sein Lebenswerk, wohl nicht zuletzt auch aus Gründen der Pietät, von den deutschen Medien weitgehend positiv bewertet wurde, lediglich ein Grieche hat sich kritisch zu Wort gemeldet, möchte ich zunächst an zwei nicht ganz so schöne Episoden in Schäubles langer Karriere erinnern und danach auf ein prägendes Erlebnis eingehen.

Der erste unschöne Vorfall ist die Niederschlagung der Palastrevolution 1989 in der CDU. Lothar Späth, Rita Süssmuth, Ernst Albrecht und Heiner Geißler hatten im Herbst 1989 offenbar erkannt, dass der Preis der Wiedervereinigung zu hoch sein wird. Kohl gelang es jedoch, auf dem Bremer Parteitag mit 77% der Stimmen wiedergewählt zu werden. Geißler wurde daraufhin als Generalsekretär abgelöst. Albrecht verlor kurz darauf überraschend die Mehrheit im Niedersächsischen Landtag, was glücklicherweise durch einen SPD-Abgeordneten wieder behoben wurde. Späth flog aus dem CDU-Präsidium und trat letztlich nach der Traumschiff-Affäre zurück. Das entsprechende Kompromat lag offenbar seit dem Jahre 1984 in der Schublade. Süssmuth blieb zwar weitgehend unbeschädigt, war jedoch bereits ein Jahr zuvor von der Familienministerin zur Bundestagspräsidentin „befördert“ worden. Damit wurde die  innerparteiliche Kontinuität gewahrt, die Schäuble als Kohls designierten Kronprinzen eines Tages in das Amt des Bundeskanzlers befördern sollte. Daraus wurde jedoch leider nichts. Wie schon ein halbes Jahr zuvor Oskar Lafontaine, wurde auch Schäuble Ziel eines Attentats. Damit komme ich – quasi ohne Überleitung – auch direkt zum zweiten Vorfall: Bei der Spendenaffäre der CDU, spielte Schäuble eine wichtige Rolle. Im Rahmen der rücksichtslosen Aufklärung durch Angela Merkel kam Schäuble zu dem Entschluss, nicht mehr als Partei- und Fraktionsvorsitzender zu kandidieren. Das entsprechende Kompromat lag wohl auch in den Aktenschränken der Stasi, wurde aber bei der Wiedervereinigung vernichtet. 2005 wurde Angela Merkel Kanzlerin.

Mein prägendes Erlebnis war eine Rede, die Schäuble im Jahre 2016 in der Bucerius Law School gehalten hat. Darin beschreibt er die grundlegenden Motive bundesdeutscher Politik. Den Ausgangspunkt seiner Überlegung bildet dabei der Holocaust. Daraus ergebe sich die Staatsraison der BRD und die gesamte Handlungslinie der Bundesregierung von der europäischen Einigung bis bis hin zur Grenzöffnung 2015. Zum Schluss betont er noch einmal, dass die Entscheidung, Ungarn und Österreich Migranten anzunehmen, richtig war und, dass die Weimarer Republik an der Schwäche der Mitte gescheitert sei.

Dies alles halte ich für komplett falsch, und zwar für gefährlich falsch. Der Denkfehler fängt bereits bei seiner Letztbegründung an. Dazu ein Beispiel aus dem Strafrecht: Die Verurteilung eines Straftäters basiert nur mittelbar auf der Straftat. Sie basiert unmittelbar darauf, dass er sich dabei erwischen ließ. Genauso basiert Schicksal der Deutschen seit 1945 nur mittelbar auf dem Holocaust. Unmittelbar basiert es auf der Niederlage im Zweiten Weltkrieg. Stalin war aus heutiger Sicht auch ein Verbrecher und Massenmörder, doch er hat den Krieg gewonnen. Demzufolge gab es weder für ihn, noch für die Völker der UdSSR irgendwelche negativen Konsequenzen. Dass auch die Westalliierten von ihrer Verantwortung freigestellt wurden, liegt auf der Hand.

Wenn man die Situation, in der sich Deutschland befindet, als direkte Konsequenz der Niederlage versteht, ändern sich die Prämissen. Dann basieren die Entscheidungen auf einmal nicht mehr auf moralischen Gründen, sondern auf konkreten Sachzwängen, die sich in erster Linie aus der eigenen Schwäche ergeben. Die Bundesrepublik wurde im Rahmen der Wiedervereinigung und in Anlehnung an den Versailler Vertrag bewusst und gewollt in eine Lage der Wehrlosigkeit versetzt. Wirtschaftlich und versorgungstechnisch bestehen mittlerweile so starke Abhängigkeiten vom Ausland, dass Erpressungsszenarien möglich werden, sogar durch unsere sog. „Freunde und Partner“. So wird ein Schuh draus, und so erklärt sich auch mühelos, warum die Bundesregierung scheinbar offenkundig gegen die unmittelbaren Interessen des eigenen Volkes handelt. Es ist jedoch lediglich die Entscheidung für das geringere Übel.

Die Entscheidung der Bundeskanzlerin im Herbst 2015, Ungarn und Österreich beizuspringen und damit deren Probleme zu unserem Problem zu machen, widerspricht evident dem Subsidiaritätsprinzip der EU. Man hätte beide Staaten bei der Bewältigung ihrer Probleme mit Hilfsgütern unterstützen können.

Last but not least ist die Weimarer Republik nicht an der Schwäche der Mitte gescheitert, sondern deren katastrophaler Politik, die das deutsche Volk zu Heloten des Auslands degradiert und das Land wirtschaftlich zugrunde gerichtet hat. Nur deshalb konnte überhaupt eine solche Verzweiflung entstehen, die es einem gescheiterten Kunstmaler aus dem Wiener Männerwohnheim ermöglichte, Reichskanzler zu werden. Unter „normalen“ Umständen wäre er das geblieben, was er bis dahin gewesen war, ein Nichts, ein Nobody, ein Unbekannter. Weimar hat Hitler erst möglich gemacht, und jeder Versuch, an Weimarer Traditionen anzuknüpfen, führt zwingend in denselben Abgrund. Deshalb erstarken auch die politischen Ränder. Es ist die Weimarer Krankheit. Zwischen Richtig und Falsch gibt es keine Kompromisse. Sie sind Folge des Verhältniswahlrechts. Das war die Systemschwäche der Weimarer Republik.