Neuerdings ist im Strafrecht eine interessante Entwicklung zu beobachten: Die Verteidigung zeigt auf, dass es eine theoretisch denkbare Konstellation gibt, in der kein strafbares Handeln vorliegt. Daraufhin erfolgt ein Freispruch „in dubio pro reo“. So geschah es jüngst auch in einem Strafverfahren wegen Vergewaltigung in Hamburg. Die BILD-Zeitung schreibt zu der (typischen) Einlassung des Angeklagten, es habe sich um einvernehmlichen Sex gehandelt:

Die Staatsanwältin zweifelte nach einer langen Verhandlung an der Glaubwürdigkeit dieser Darstellung, beantragte eine Haftstrafe von drei Jahren. Der Richter hingegen sah die Situation anders. Er schloss nicht aus, dass die demente Frau zum fraglichen Zeitpunkt noch in der Lage war, einen eigenen Willen zu äußern.

In diesen Ausführungen des Richters, sofern es sie so getätigt hat, liegt eine offenkundige Verkennung des Zweifelssatzes. Es kommt nicht darauf an, ob das Opfer in der Lage war, einen eigenen Willen zu äußern, sondern es kommt einzig darauf an, ob es diesen eigenen Willen auch tatsächlich geäußert hat. Der Maßstab für die richterliche Überzeugungsbildung ist nicht die absolute Sicherheit, sondern die „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“. Ob noch marginale Restwahrscheinlichkeiten für irgendwelche Freak-Konstellationen bestehen, ist egal. Daran ändert auch der technische Fortschritt nichts.

Ein Beispiel – von vielen – aus der Rechtsprechung des BGH möchte ich dazu anführen: BGH, 28.11.1950 – 2 StR 42/50.

Das Schwurgericht würdigt den Wert des Geständnisses eingehend und gibt seiner Überzeugung Ausdruck, dass der Angeklagte es frei von physischem oder psychischem Druck abgelegt habe; dennoch sei „die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass ein Angeklagter auch ohne Vorliegen körperlichen und seelischen Druckes ein falsches Geständnis ablegt.“ An anderer Stelle befasst es sich mit Angaben verschiedener Zeugen über die Ursprungsstelle des Brandes und kommt zu dem Ergebnis, dass für die Wahrheitsfindung mit ihnen „nichts anzufangen“ sei. Dennoch halt das Schwurgericht gerade mit Rücksicht auf einen Teil dieser Zeugenangaben es „theoretisch für möglich,“ dass der Brand an anderer als der vom Angeklagten in seinem Geständnis bezeichneten Stelle ausgebrochen sei, „und dass nicht der Angeklagte den Brand gelegt hat“; es könne deshalb nicht mit „letzter Sicherheit“ die volle Überzeugung von seiner Schuld gewinnen.

Diese Erwägungen verkennen offensichtlich das Wesen der freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung zu schöpfenden richterlichen Überzeugung i.S.d. § 261 StPO. Sie beruht, der Eigenart geisteswissenschaftlichen Erkennens gemäss, anders als das Ergebnis exakter, naturwissenschaftlicher Forschung nicht auf einem unmittelbar einsichtigen Denken, sondern auf dem Gewicht eines die Gründe klar abwägenden Urteils über den Gesamtzusammenhang eines Geschehens. Für sie ist es erforderlich, aber auch genügend, dass ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit besteht, dem gegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr laut werden können. Die bloße „theoretische“ oder „abstrakte“ Möglichkeit, dass der Angeklagte nicht der Täter war, kann seine Verurteilung nicht hindern. Da eine solche Möglichkeit bei der Unzulänglichkeit menschlicher Erkenntnis nie ganz auszuschliessen ist, wäre jede richterliche Wahrheitsfindung unmöglich. Diese Auffassung vom Wesen, der freien richterlichen Überzeugung ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung stets vertreten worden (vergl. RGSt. 61, 202 (206); 66, 164).