Die BILD-Zeitung berichtet empört, dass in Berlin ein „Frauen-Würger“ freigekommen sei und direkt im Anschluss eine Frau vergewaltigt habe. Laut der messerscharfen Schlussfolgerung des Boulevardblattes, sei die Staatsanwältin schuld. Sie hätte ihn freigelassen, anstatt ihn dem Haftrichter vorzuführen.

Dem Haftrichter wird ein Beschuldigter nur dann vorgeführt, wenn ein Haftbefehl beantragt wird. Ein Haftbefehl wird grundsätzlich nur dann beantragt, wenn sog. „dringender Tatverdacht“ besteht und ein sog. „Haftgrund“ vorliegt, vgl. § 112 StPO. Bei den Katalogstraftaten des Abs. 3, kann der Haftbefehl ausnahmsweise auch ohne Haftgrund ergehen, sofern diese Maßnahme verhältnismäßig ist (= ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal*).

Wenn der Beschuldigte mutmaßlich eine Frau gewürgt haben soll, steht zwar ein versuchter Totschlag (§ 212, 22, 23 StGB) im Raum. Nach ständiger Rechtsprechung (Hemmschwellentheorie), ist jedoch nicht jede Körperverletzung ohne zusätzliche Anhaltspunkte auch als solcher zu werten. Damit dürfte der Ausnahmetatbestand des Abs. 3 nicht erfüllt sein. Was den Haftgrund der Wiederholungsgefahr anbetrifft, ist § 112a StPO einschlägig. Das Problem besteht hier im zweiten Halbsatz:

und bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen, daß er vor rechtskräftiger Aburteilung weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen oder die Straftat fortsetzen werde.

Mit anderen Worte: Ein Strike genügt noch nicht, erst ab dem zweiten Strike wird inhaftiert.

An diesen „bestimmten Tatsachen“ scheint es hier offenbar gefehlt zu haben. Da der zweite Strike jedoch umgehend erfolgte, darf der Beschuldigte nun in Haft genommen werden. Das entspricht dann der Systematik. Wem das zu soft erscheint, der ist ein Ewiggestriger. Von 1935-1945 lautete § 112 StPO:

Der Angeschuldigte darf nur dann in Untersuchungshaft genommen werden, wenn dringende Verdachtsgründe gegen ihn vorhanden sind und entweder er der Flucht verdächtig ist oder Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, daß er Spuren der Tat vernichten oder daß er Zeugen oder Mitschuldige zu einer falschen Aussage oder Zeugen dazu verleiten werde, sich der Zeugnispflicht zu entziehen oder daß er die Freiheit zu neuen strafbaren Handlungen mißbrauchen werde oder wenn es mit Rücksicht auf die schwere der Tat und die durch sie hervorgerufene Erregung der Öffentlichkeit nicht erträglich wäre, den Angeschuldigten in Freiheit zu lassen. Die Tatsachen sind aktenkundig zu machen.

Der Verdacht der Flucht bedarf keiner weiteren Begründung:

1. wenn ein Verbrechen den Gegenstand der Untersuchung bildet;
2. wenn der Angeschuldigte ein Heimatloser oder Landstreicher oder nicht imstande ist, sich über seine Person auszuweisen;
3. wenn der Angeschuldigte ein Ausländer ist und begründeter Zweifel besteht, daß er sich auf Ladung vor Gericht stellen und dem Urteile Folge leisten werde.

 

* In einer Entscheidung aus dem Jahre 1965 führte das Bundesverfassungsgericht dazu aus:

Der neu eingeführte § 112 Abs. 4 StPO [der heutige Abs. 3 – Anm. d. Verf.] müßte dagegen rechtsstaatliche Bedenken erwecken, wenn er dahin auszulegen wäre, daß bei dringendem Verdacht eines der hier bezeichneten Verbrechen gegen das Leben die Untersuchungshaft ohne weiteres, d.h. ohne Prüfung weiterer Voraussetzungen, verhängt werden dürfte. Eine solche Auslegung wäre mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Es kann schon zweifelhaft sein, ob sie dem Wortlaut der Bestimmung entspricht; denn dieser legt es nahe, der Vorschrift nur subsidiäre Geltung beizumessen, sie also nur anzuwenden, wenn zuvor das Vorliegen eines Haftgrundes nach Absatz 2 geprüft und verneint worden ist. Aber auch wenn man dieser Auslegung nicht folgt, fordert der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, daß der Richter auch bei Anwendung des § 112 Abs. 4 StPO den Zweck der Untersuchungshaft nie aus dem Auge verliert. Weder die Schwere der Verbrechen wider das Leben noch die Schwere der (noch nicht festgestellten) Schuld rechtfertigen für sich allein die Verhaftung des Beschuldigten; noch weniger ist die Rücksicht auf eine mehr oder minder deutlich feststellbare „Erregung der Bevölkerung“ ausreichend, die es unerträglich finde, wenn ein „Mörder“ frei umhergehe. Es müssen vielmehr auch hier stets Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, daß ohne Festnahme des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte. Der zwar nicht mit „bestimmten Tatsachen“ belegbare, aber nach den Umständen des Falles doch nicht auszuschließende Fluchtverdacht oder Verdunkelungsverdacht kann u.U. bereits ausreichen. Ebenso könnte die ernstliche Befürchtung, daß der Beschuldigte weitere Verbrechen ähnlicher Art begeht, für den Erlaß eines Haftbefehls genügen. § 112 Abs. 4 StPO ist in engem Zusammenhang mit Absatz 2 zu sehen; er läßt sich dann damit rechtfertigen, daß mit Rücksicht auf die Schwere der hier bezeichneten Straftaten die strengen Voraussetzungen der Haftgründe des Absatzes 2 gelockert werden sollen, um die Gefahr auszuschließen, daß gerade besonders gefährliche Täter sich der Bestrafung entziehen.