Als ehemaliger Einser-Schüler in Geschichte und ehemaliger Geschichtsstudent erlaube ich mir, als selbsternanntem „Experten“ auf diesem Gebiet, einen Blick auf die diesjährigen bayrischen Abituraufgaben zu werfen. Die Frage lautet: Hätten Sie die Prüfungen im Fach Geschichte lösen können?

Die Prüfung beginnt schon mal damit, dass man seine Prüfungsaufgaben selbst wählen darf. Dieses Konzept, das Erinnerungen an Mr. Bean weckt, gab es zu meiner Schulzeit nicht. Bei uns gab es damals nur einen großen Vergleichspool und damit auch nur eine Gauss’sche Verteilungskurve. Heute wird individueller benotet. Vielleicht sind die Abiturnoten heute auch deshalb so inflationär.

Die Abiprüflinge durften wählen zwischen: Gesellschaft im Wandel, Demokratie und Diktatur, DDR als möglicher Alternative, und Konfliktregionen und Akteuren internationaler Politik. Das legt bereits nahe, wie die gewünschten Antworten aussehen dürften. Die heutige Gesellschaft ist besser, Demokratie ist besser als Diktatur, die DDR ist keine Alternative, und die Amis sind die Weltpolizei. Das alles ist natürlich über mehrere Seiten auszuführen, fertig. Fertig ist der bayrische Jungwähler, der sich hoffentlich bei der nächsten Wahl für die CSU entscheidet, zumindest wenn es nach dem Kultusminister geht.

Aber das ist natürlich viel zu oberflächlich. Es fehlt die Argumentationstiefe, also gehen wir ins Detail.

Zu Thema 1: Dort soll man sich zunächst mit der Ständegesellschaft (Klerus, Adel, Bürgertum) beschäftigen. Wie wird die Analyse wohl ausfallen, wenn die Abiturienten damals weit überwiegend zum Dritten Stand gehört hätten? Es wird zum Klassenkampf kommen. Die Anreizung zu demselben war natürlich auch der Inhalt der Quelle M1. Diese repräsentiert den Vorgänger der heutigen Volksverhetzung, was natürlich kein Zufall sein dürfte. Die nächste Frage dreht sich um das damalige Verlagswesen, ist also reine Reproduktion. Man weiß es, oder man weiß es nicht. Die dritte Frage beinhaltet eine Zukunftsprognose bezüglich des Nutzens der Eisenbahn. Friedrich List lag richtig. Das war auch nicht schwer zu erkennen, denn genau so ist es gekommen. Dass die Eisenbahn nicht zuletzt auch der „kapitalistischen Ausbeutung“ dient, wird angedeutet. Als Nächstes darf wieder gewählt werden: Möchten Sie unserem Bundespräsidenten Recht geben? Möchten Sie dem verstorbenen Außenminister von der F.D.P. Recht geben? Oder möchten Sie sich als Philosemit outen? Egal, was Sie wählen, es sollte eine Lobpreisung der Protagonisten sein. Beim dritten Thema sollten man natürlich zu dem Schluss kommen, dass die Jugend einen immensen Beitrag zum Frieden leisten kann, because why not?

Zu Thema 2: Dort geht es mit einer Lobhudelei auf die Weimarer Reichsverfassung los. Wie toll und wundervoll ist sie doch gelungen, eine Augenweide. Vor allem die Grundrechte waren so unglaublich fortschrittlich, auch wenn sie lediglich Programmsätze waren. Nur der Reichspräsident ist ein wenig missglückt, denn der wurde vom populistischen Pöbel gewählt. Die nächste Frage beschäftigt sich mit Satire. Es geht also nicht darum, warum die Weimarer Republik wirklich gescheitert ist, es geht um die Meinung eines Zeichners. Das heißt, es spielt weder der Versailler Vertrag eine Rolle und der massive Abfluss von Volksvermögen ins Ausland, noch die 25% Arbeitslosigkeit, und schon gar nicht die Hyperinflation, sondern es geht natürlich um die Nazis. Die haben das alles kaputt gemacht, und der populistische Pöbel fand es auch noch wundervoll. Eine absolute Schande! Nachdem sich die Abiturienten als vorbildliche Demokraten in Szene gesetzt haben, geht es in der nächsten Frage um Adenauer. Daran zeigt sich, dass es sich um ein bayrisches Abitur handelt, denn in SPD-regierten Bundesländern gilt die Aufmerksamkeit eher Kurt Schumacher. Fassen wir uns kurz: Adenauer hat natürlich Recht, jedenfalls in Bayern. Selbstverständlich muss sich Europa gegen die Rote Flut wappnen. Ähnlichkeiten zur Ukraine sind gerade nicht rein zufällig, denn das alles hat „der Alte“ schon 1952 kommen sehen. Was kommt als nächstes? Natürlich wieder die drei Wahlaufgaben (s.o.).

Zu Thema 3: Unter der Überschrift „Die DDR – eine deutsche Alternative“, geht es ans Eingemachte. Die erste Frage dreht sich um den sog. „Arminius-Mythos„. Arminius alias „Hermann der Cherusker“ war der erste Germane Deutsche, der einer ausländischen Großmacht, hier den Römern im Teutoburger Wald, in den Allerwertesten getreten hat. Diese Kunststück konnte 1813 in der Völkerschlacht bei Leipzig und 1870 in Sedan wiederholt werden. Eine Quelle muss nicht analysiert werden, also handelt es sich um Reproduktion. Man weiß es, oder man weiß es nicht. Der Clou dürfte darin bestehen, nicht nur den Nationalismus abzulehnen, sondern die geschichtliche Kontinuität zu erkennen, ein Lieblingsthema amerikanischer Historiker, die seit Kriegsende herrschende Meinung ist. Die zweite Frage beschäftigt sich mit der Annexion Elsass-Lothringens (die nach damaliger Sicht eine Re-Annexion war, nur das lernt man heute nicht mehr). Die Quelle, zu der man laut Anweisung „kritisch“ Stellung nehmen soll, stützt sich auf Nationalismus, aber auch auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Tricky! Die dritte Frage dreht sich um den Elysee-Vertrag und die damit endgültig überkommene deutsch-französische Erbfeindschaft. Danke Konrad Adenauer! Zu guter Letzt haben wir auch wieder unsere drei altbekannten Wahlthemen (s.o. und ganz o.). Was Frankreich thematisch mit der DDR zu tun haben soll, bleibt unklar. Gut, Honecker stammte aus dem Saarland, aber das war es auch schon. War es der Praktikant?

Zu Thema 4: Da die braven Nachwuchsheloten zwischen Frankreich und den USA zu wählen haben, dürfen Letztere natürlich nicht fehlen. Wer sich für die anderen Themen nicht erwärmen konnte, darf nun ein Loblied auf God’s own Country singen. Die erste Aufgabe besteht darin, den USA zumindest seit 1990 die moralische Überlegenheit zu attestieren, denn ihr Hauptmotiv ist natürlich die Verteidigung der Menschenrechte. Frage 2 beschäftigt sich mit der US-Propaganda aus dem Jahre 1948. Damals war es noch der Kampf für den Frieden. Das Ergebnis war der Korea-Krieg, und das dürfte auch das beste Beispiel für Frage 2.2 sein. Bei Frage 3 wird es gefährlich, denn es soll zu einer Rede Roosevelts Stellung genommen werden. Zum Glück geht es nicht um die objektive Beurteilung der Lage, sondern, wie Roosevelt seine Entscheidung erläutert hat. Von der Tyler-Kent-Affäre dürfte der typische deutsche Abiturient ohnehin noch nie etwas gehört haben. Weil es so schön ist, hat man zu Roosevelts Rede mit Cut&Paste noch einen Absatz von S. 13 angefügt, der damit zwar gar nichts zu tun hat, aber hey. Im Prüfungsamt sitzen auch nur Menschen. Das hat man bereits oben, beim Thema „Frankreich und die DDR“ gemerkt. Zum Abschluss folgt wie immer der übliche Themenaufsatz. Das scheint wirklich wichtig zu sein. Da lässt man offenbar nichts anbrennen.

Wir halten fest, die diesjährige Geschichtsprüfung in Bayern war mal wieder ein Meisterwerk. Es ging zwar nicht wirklich um Geschichte, sondern um die Bejahung der herrschenden Narrative. Wir lernen für das Leben. Was nützt historisches Wissen, wenn es nicht mehr gefragt ist? Geschichte ist subjektiv!