Dass die deutsche Wikipedia und die englische Wikipedia insbesondere bei historischen Themen nicht immer deckungsgleich sind, liegt auf der Hand, denn die Schwerpunktsetzung hängt von den jeweiligen Bearbeitern ab. Problematisch wird es jedoch, wenn in einer Version umstrittene Punkte komplett ausgeblendet werden. Beispiel: Die sog. „Sisson-Dokumente“, über die sowohl in der deutschen, als auch der englischen Wikipedia referiert wird.

Unstreitig ist der Inhalt dieser Dokumente. Es geht um die angebliche Unterstützung der Bolschewisten während der Russischen Revolution durch den deutschen Geheimdienst. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Lenin in einem verblombten Waggon von der Schweiz durch Deutschland nach Russland fahren durfte. Der Diensthabende hatte seine Instruktionen unmittelbar vom Ersten Generalquartiermeister Erich Ludendorff erhalten.

Unstreitig ist ferner, zumindest nach der deutschen Wikipedia, dass es sich dabei um Fälschungen handelt. Dies steht bereits im Einleitungssatz:

„Die Sisson-Dokumente sind eine Sammlung von 68 gefälschten Dokumenten, die im Ersten Weltkrieg den Nachweis einer finanziellen Unterstützung der Bolschewiki durch das Deutsche Reich erbringen sollten.“

Der Fälschungsvorwurf wird wie folgt dargestellt:

„Da die Echtheit der Papiere teilweise angezweifelt wurde, publizierte die CPI das Buch The German-Bolshevik Conspiracy. Das Buch enthielt verschiedene der Dokumente mit Übersetzung und einer Analyse der anerkannten Fachhistoriker John Franklin Jameson and Samuel Harper vom National Board for Historical Service. Die beiden Historiker stuften die Dokumente als authentisch ein. Edgar Sisson erzielte allerdings keinen Profit durch seinen riskanten Schmuggel. Ihre Echtheit blieb weiterhin umstritten. 1956 wies der Historiker George F. Kennan nach, dass es sich bei den Dokumenten um Fälschungen handelte. Neuere Untersuchungen legen nahe, dass es sich bei dem Fälscher um Ossendowski selbst gehandelt hatte.“

Wenn man nach letztgenanntem Historiker sucht, findet man diesen Eintrag. Die Liste seiner Tätigkeiten für die amerikanische Regierung ist schier endlos. Ein besseres Beispiel für einen Verwaltungsbeamten, der so massiv in die Außenpolitik seines Landes involviert war, wird sich nur schwer finden lassen. Davon liest man in der deutschen Wikipedia jedoch nichts, anders die englische Version. Dort wird der rosa Elefant im Raum zumindest angesprochen:

„His analysis of the decades-old controversy attracted little public attention, but it proved more important within the scholarly community. It challenged „the growing tendency in academia and government to conflate all forms of totalitarianism, in particular Nazism and Communism“ and questioned the wisdom of scholarship’s alliance with national interests.“

Die Publikation „The German-Bolshevik Conspiracy“ des Committee of Public Information, befindet sich heute u.a. im Internet Archiv. Ob es sich dabei um Information, oder um Desinformation gehandelt hat, dürfte wohl im Auge des Betrachters liegen. Diese Frage lässt sich jedenfalls nicht zwingend durch die Erkenntnisse eines „Historikers“ klären, die im offenen Widerspruch zu denen zweier Kollegen – angeblich „anerkannte Fachhistoriker“ – steht. Andernfalls könnte ja jeder kommen und die Geschichte nach seinen Vorstellungen umschreiben, was nicht heißt, dass dies nicht geschieht. Es geschieht viel zu oft.

Um das Thema auch noch mit der Jurisprudenz zu verknüpfen, ist an die klassischen prozessualen Beweismittel zu erinnern: Zeugen, Parteivernehmung, Sachverständige, Urkunden und Augenschein. Wenn es um die Echtheit von Urkunden geht, werden Sachverständige als Gutachter herangezogen. Sind dies die beiden „anerkannten Fachhistoriker“, gewinnt man, ist es jedoch der Verwaltungsbeamte, der mittlerweile Honorarprofessor ist, verliert man.