Aufgrund der exorbitanten Bedeutung der Examensnoten und nicht zuletzt weil die Examensklausuren relativ zum Durchschnitt korrigiert werden, rennen Jurastudierende bekanntlich fast ausnahmslos zum Repetitor. Repetitorien sind Privatschulen, die sich auf die Examensvorbereitung spezialisiert haben und nicht selten Werbung damit machen, dass sie einen Riecher für die Themen haben, die im nächsten Termin drankommen.

Ein bekanntes Repetitorium hat in Internetauftritt im März eine neuere BGH-Entscheidung besprochen. Es ging um zwei junge Männer, die von Türstehern einer Frankfurter Diskothek abgewiesen wurden. Einer zog daraufhin ein Messer und stach mit Tötungsvorsatz auf mehrere Türsteher ein. Im Laufe des Kampfes kamen immer mehr Türsteher hinzu, dass der Angreifer den geordneten Rückzug antrat.

Er wurde daraufhin von der Jungendstrafkammer des LG Frankfurt im Dezember 2020 u.a. wegen versuchten Mordes verurteilt. Selbstverständlich legte der Verteidiger Revision zum BGH ein. Das ist schnell getan. Es reicht der Satz „Ich rüge die Verletzung materiellen Rechts“. Der Bürger glaubt es kaum, doch der BGH hob diesen Teil der Entscheidung auf. Die Begründung zeigt einmal mehr, dass es selbst für gestandene Justizprofis heutzutage kaum noch möglich ist, sich durch das Wirrwarr von Schutzbehauptungen, offenkundigem Bullshit, Betriebsblindheit und völlig absurden Annahmen zurechtzufinden. Dies ist regelmäßig der Fall, wenn es um Messerangriffe und einen (un)möglichen Rücktritt vom Versuch geht.

Merke: Durch einen „lebensgefährlichen“ Stich mit dem Messer wird objektiv ein tödlicher Kausalverlauf in Gang gesetzt, auf den der Täter keinen Einfluss mehr hat. Das Opfer verblutet, egal was sich der Täter hinterher denkt, was er will, glaubt, meint, oder sich erhofft. Es kann in solchen Fällen eigentlich keinen strafbefreienden Rücktritt geben, denn der Versuch ist mit dem Stich bereits beendet. Das ist offenkundig, so offenkundig, dass man es schlichtweg nicht falsch machen kann, könnte man meinen. Aber nein, es geht auch anders. Genau das macht den Reiz solcher Fälle für die Examensprüfung aus.

Lassen wir den BGH zu Wort kommen:

1. Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. StGB wird wegen Versuchs nicht bestraft, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt. Voraussetzung ist zunächst, dass der Täter zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit einem Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs rechnet (unbeendeter Versuch), seine Herbeiführung aber noch für möglich hält. Zutreffend gesehen und beachtet hat das Landgericht, dass es für die Abgrenzung des unbeendeten vom beendeten Versuch und damit für die Anforderungen an die Rücktrittsleistung des Täters darauf ankommt, ob der Täter nach der letzten von ihm konkret vorgenommenen Ausführungshandlung den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges für möglich hält (sog. Rücktrittshorizont; vgl. nur BGH, Beschluss vom 19. Mai 1993 – GSSt 1/93, BGHSt 39, 221, 227 mwN). Wenn der Täter nach seinem Kenntnisstand nach der letzten Ausführungshandlung in zutreffender Einschätzung der durch die Tathandlung verursachten Gefährdung des Opfers oder in Verkennung der tatsächlichen Ungeeignetheit seiner Handlung den Erfolgseintritt für möglich hält, ist der Versuch beendet; rechnet der Täter dagegen nach der letzten Ausführungshandlung nach seinem Kenntnisstand (noch) nicht mit dem Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges, und sei es auch nur in Verkennung der durch seine Handlung verursachten Gefährdung des Opfers, so ist der Versuch unbeendet, wenn die Vollendung aus der Sicht des Täters noch möglich ist (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Urteil vom 16. Januar 2019 – 2 StR 312/18 Rn. 8 mwN). Macht der Täter sich nach der letzten Ausführungshandlung keine Vorstellung über die Folgen seines Tuns oder ist ihm der Erfolg gleichgültig, ist ein beendeter Versuch anzunehmen (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Urteil vom 7. Februar 2018 – 2 StR 171/17 Rn. 13 mwN).

Soweit alles in Ordnung, was auch nicht sonderlich schwer war, doch es geht noch weiter:

2. Maßgebend für die Beurteilung des Rücktrittshorizonts ist das subjektive Vorstellungsbild des Täters zum Zeitpunkt der letzten Ausführungshandlung, bei einem – wie hier – mehraktigen Geschehen die subjektive Sicht des Täters nach Ausführung der letzten zu dem Gesamtgeschehen gehörenden Handlung (vgl. Senat, Urteil vom 17. Februar 2016 – 2 StR 213/15, NStZ 2017, 149, 151). Sind Einzelakte untereinander sowie mit der letzten Tathandlung Teile eines durch die subjektive Zielsetzung des Täters verbundenen, örtlich und zeitlich einheitlichen Geschehens, so beurteilen sich die Fragen, ob der Versuch fehlgeschlagen ist oder ob der strafbefreiende Rücktritt andernfalls allein schon durch das Unterlassen weiterer Tathandlungen (unbeendeter Versuch) oder durch Verhinderung der Tatvollendung (beendeter Versuch) erreicht werden kann, ebenfalls allein nach der subjektiven Sicht des Täters nach Abschluss seiner letzten Ausführungshandlung (BGH, Urteil vom 8. Februar 2007 – 3 StR 470/06, NStZ 2007, 399 Rn. 3; Beschluss vom 9. September 2014 – 4 StR 367/14, NStZ 2015, 26 jeweils mwN).

Auch ein schöner Textbaustein. Wo liegt das Problem? Das Problem liegt in dem Abstellen auf die „subjektive Sicht“ des Täters. Der wird immer sagen, dass er glaubte, das Opfer nur leicht verletzt zu haben (sog. „Schutzbehauptung“), oder noch besser, dass er mit dem Abstechen des Opfers noch nicht fertig gewesen sei. Wenn es den Richtenden in der Ausgangsinstanz nicht gelingt, diese Einlassung zu widerlegen, kommt das gesamte Verfahren ins Wanken. Die Revision kann Fehler bei den tatsächlichen Feststellungen nur höchst selten ausbügeln. Zumeist kommt es zu Passagen, wie der folgenden:

Auch hiervon ist die Strafkammer zutreffend ausgegangen. Die Urteilsgründe lassen allerdings besorgen, dass das Landgericht seiner rechtlichen Würdigung insofern nicht den gesamten festgestellten Geschehensablauf zugrundegelegt hat, als es nur auf das Geschehen bis zum Wegschubsen des Angeklagten durch eine nicht identifizierbare Person abgestellt hat. Die Urteilsfeststellungen hätten indes Anlass gegeben, auch das nach diesem Zeitpunkt liegende Geschehen näher in den Blick zu nehmen und zu erörtern, bei der die Auseinandersetzung zwischen den Türstehern und dem Angeklagten fortgesetzt und der Angeklagte hierbei nicht überwältigt wurde, er vielmehr sodann mit erhobenem Messer in Richtung des Zeugen A. eilte und – nachdem dieser von seinem Bruder abließ – sich entfernte. Hierzu lassen die Urteilsgründe eine Erörterung vermissen, obgleich diese nach Lage der Dinge geboten gewesen wäre. Weder gestattet die bislang festgestellte objektive Sachlage einen sicheren Rückschluss auf die innere Einstellung des Angeklagten (hier etwa darauf, dass das nicht erörterte Geschehen für den maßgeblichen Rücktrittshorizont des Angeklagten ohne Bedeutung gewesen sein könnte), so dass ausnahmsweise von entsprechenden Erörterungen hätte abgesehen werden können (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Juni 1988 – 4 StR 266/88, BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Freiwilligkeit 7), noch war eine Erörterung deswegen entbehrlich, weil die Strafkammer zu dieser Auseinandersetzung zwischen den Türstehern und dem Angeklagten bislang keine näheren Feststellungen zu treffen vermochte. Denn die von der Strafkammer angenommene gedankliche Indifferenz des Angeklagten gegenüber den von ihm bis dahin zumindest in Kauf genommenen Konsequenzen muss – als innere Tatsache – positiv festgestellt werden; können konkrete Feststellungen nicht getroffen werden, darf dies mit der positiven Feststellung der gedanklichen Indifferenz nicht gleichgesetzt werden, da es insoweit noch Raum für die Anwendung des Zweifelssatzes gibt (vgl. BGH, Urteil vom 21. Februar 2018 – 5 StR 347/17 Rn. 13; Beschluss vom 27. Januar 2014 – 4 StR 565/13 Rn. 5 f. je mwN).

Und so kommt auch der gute Repetitor in seinem Video (s.o.) zu dem Ergebnis, dass hier kein Mordversuch vorlag. Das ist kritisch, weil der BGH lediglich formale Fehler in der Urteilsbegründung gerügt hat, die man beheben kann. Wer diese Argumentation jedoch als Studierender brav auswendig gelernt hat, wird sich vermutlich über folgendes Urteil einer anderen Jugendstrafkammer des LG Frankfurt wundern: 6 Jahre wegen zweifachen versuchten Mordes.

 

Exkurs: Die gesamte Problematik rund um den sog. „Rücktrittshorizont“ geht auf eine Rechtsprechungsänderung des BGH aus dem Jahre 1986 zurück. Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass es sich bei Rechtsprechungsänderungen ausnahmslos um Fehlentscheidungen handelt. Wenn ein Sachverhalt 115 Jahre lang in eine Richtung entschieden wurde, ist es zumindest verwunderlich, dass es nun auf einmal komplett anders laufen soll. Die Wahrscheinlichkeit, dass 115 Jahre lang Stümper am Werk waren, die einfach nicht verstanden haben, wie es richtig geht, ist deutlich geringer, als die Wahrscheinlichkeit, dass diejenigen, die es ändern wollen, inkompetent sind. Das nützt jedoch wenig, denn die „Fehlentscheidung“ wird bald 40 Jahre alt. Nichts desto trotz sind Vorbehalte angebracht, wenn Richtende auf geniale Ideen kommen, denn es könnte sich auch um juristischen Aktivismus handeln.