Die Tagesschau drückt auf die Tränendrüse: Viele mittellose Angeklagte landen nur deshalb im Gefängnis, weil sie sich keinen Anwalt leisten können.
Vorab: Viele mittellose Angeklagte landen nur deshalb im Gefängnis, weil sie Straftaten begangen haben. In Deutschland kommt es nämlich nur zur Hauptverhandlung, wenn hinreichender Tatverdacht besteht. Andernfalls wird das Verfahren eingestellt. Die Unschuldsvermutung bedeutet nicht, dass nur Unschuldige vor Gericht stehen, auch wenn Linke die Schuld gerne bei der Gesellschaft vermuten. Die Freispruchquote in Deutschland liegt stabil bei ca. 3%. Das heißt zwar nicht, dass 97% der Angeklagten verurteilt werden, die Verfahrenseinstellung gegen Geldauflage ist bekanntlich bei der Staatskasse sehr beliebt, aber wer es in die Hauptverhandlung schafft, hat grundsätzlich schlechte Karten.
Auch die Behauptung, ein Anwalt hätte vielleicht einen Weg gefunden, die Strafe zu vermeiden, basiert im Kern auf einer Fehlvorstellung. Der Verteidiger ist weder der Komplize des Angeklagten, noch begeht er berufsmäßige Stafvereitelung. Wir sind hier nicht in den USA. Die Aufgabe eines deutschen Strafverteidigers besteht zum einen darin, sicherzustellen, dass die Spielregeln der StPO eingehalten werden, und zum anderen darin, den Angeklagten davor zu bewahren, sich selbst zu schaden. Am effektivsten ist eine Verteidigung im Ermittlungsverfahren, wo man mit der Staatsanwaltschaft reden kann. Kommt es erst mal zum Eröffnungsbeschluss, wo der Richter aktenkundig macht, dass auch er eine Verurteilung für wahrscheinlich hält, wird es schwer.
Die Hauptverhandlung ist dem französischen Inquisitionsprozess nachgebildet. Der Name ist Programm: Der Richter ist der Boss. Er ist Ankläger und Entscheider in einer Person. Dass auch noch ein Staatsanwalt agiert, den man sich auch problemlos sparen könnte, ist nur deshalb vorgesehen, damit diese Machtkonzentration nicht so erdrückend wirkt. Früher haben Richter z.B. die Anklage selbst verlesen, wie es heute im OWi-Verfahren immer noch der Fall ist. Das Kasperletheater ist übrigens einer deutschen Hauptverhandlung nachgebildet. Seid ihr alle da? Ja!
Nun spielt der Bundesjustizminister von der FDP offenbar mit dem Gedanken, die Pflichtverteidigung auszuweiten. Was er dabei jedoch übersehen hat, ist der Umstand, dass der Angeklagte, sofern es nicht zum Freispruch kommt, regelmäßig auf den Kosten des Verfahrens sitzen bleibt. Zu denen gehören auch die Kosten der Pflichtverteidigung. Die liegen bei einem Verfahren vor dem Amtsgericht, für das ein Verhandlungstag angesetzt wird, bei ca. 900 €.
Natürlich ist dabei auch zu bedenken, dass man bei Mittellosen nichts pfänden kann. In die Tasche kann man nur denen greifen, die auch etwas haben. Die Ausweitung der Pflichtverteidigung führt damit im Extremfall zu einer neuen Form von Zweiklassen-Justiz. Wer Steuern bezahlen kann, was Mittellose üblicherweise nicht können und daher auch nicht müssen, kann im Zweifel auch die Kosten des Strafverfahrens bezahlen. Das heißt, dass der Mittelstand, der trotz staatlicher Umverteilung immer noch über Mittel verfügt, gegenüber den Mittellosen demnächst einen mittelbaren Strafaufschlag erwarten darf.
Es heißt aber auch noch etwas anderes: Da Richter seit einigen Jahren in der Regel selbst bestimmen, welchem Pflichtverteidiger sie die Verteidigung anvertrauen, werden die Fälle zunehmend auf bestimmte Anwälte konzentriert, denn die meisten Beschuldigten machen von ihrem Wahlrecht gem. § 142 Abs. 5 StPO keinen Gebrauch. Das hat zur Folge, dass auf Dauer nur noch Anwälte übrig bleiben, mit denen Richter unproblematisch zusammenarbeiten kann, nach dem Motto „bekannt und bewährt“. Ein Schelm, wer Böses denkt. Das hat sich wohl auch der Gesetzgeber gedacht und den Abs. 6 eingefügt. Der hat jedoch gewisse Eingangshürden, die normale Anwälte ausschließen. Das ist insoweit bemerkenswert, weil normalen Anwälten seit geraumer Zeit eine Verdienstmöglichkeit nach der anderen versagt wird. Erst war das Notariat weg, dann die Betreuung und seit einigen Jahren die Pflichtverteidigung. Im Zivilrecht soll demnächst der Eingangsstreitwert für die Landgerichte angehoben werden. Damit fallen theoretisch auch noch ein paar Mandate weg.
Mir kann es relativ egal sein, weil ich faktisch, wie heißt es so schön, „Privatier“ bin und mir meine Mandate aussuchen kann, aber die Gesamtentwicklung ist bedenklich. Das Jurastudium stellt sich zunehmend als Karriere-Falle heraus. Wie junge Anwälte heutzutage am Markt überleben sollen, weiß ich nicht.