In den juristischen Examina ist der Begriff „Chancengleichheit“ bekanntlich ein großes Thema, denn man kann nicht einfach alle Prüflinge in einen großen Saal packen, ihnen einen Klausursachverhalt austeilen und nach 5 Stunden die Uhr anhalten. Wie schon in der Schule muss natürlich dem Umstand Rechnung getragen werden, dass manche Prüflinge benachteiligt sind. Das führt im Ergebnis dazu, dass einige Prüflinge in einem abgesonderten Raum üblicherweise 45 Minuten länger schreiben dürfen, als die anderen. Natürlich sprechen dafür gute Gründe, denn sonst hätte man dies nicht eingeführt. Bei Prüfungen geht es heutzutage nicht mehr darum, die herauszuprüfen, die aus irgendwelchen Gründen ungeeignet sind, sondern um Chancengleichheit, und wie lässt sich diese besser nachweisen, als durch Ergebnisgleichheit? Wenn alle gleich sind, werden sie auch das gleiche Ergebnis produzieren. Was der Gauß von einer Glockenkurve gefaselt hat, lässt sich notfalls in der mündlichen Prüfung durch selektive Fragestellung problemlos wieder glattziehen.

Am Tag meiner ersten Klausur zum 2. Staatsexamen trafen sich die Prüflinge auf dem Gang vor den Prüfungsräumen, man sprach über die Anspannung, wünschte sich Glück, bis dann der große Zeitpunkt gekommen war. Ein Kollege, ein Dr. L.L.M., der noch am Tag zuvor putzmunter wirkte, begab sich daraufhin zum Zimmer mit der Schreibverlängerung. Ich fragte ihn, was denn sein Leiden sei, doch er zwinkerte mir nur zu. Kein Problem, man muss ja auch nicht jedem Hansel auf die Nase binden, unter welchen Ausfallerscheinungen man leidet. Ich warf daraufhin einen Blick in den Raum und erkannte dort einige Gesichter wieder, unter anderem einen Kollegen, der noch wenige Minuten vorher so emotionslos wirkte, als hätte man ihm Ritalin verabreicht.

Bei uns, also den „Normalen“, die nicht das Pech hatten, von Gott gestraft worden zu sein, war die Möglichkeit, unseren Korrektoren zu zeigen, dass wir besser als 0 Punkte sind, nach punktgenau 5 Stunden beendet. Dass das JPA den Sachverhalt während der Klausur gleich dreimal korrigieren musste, führte natürlich nicht zu einer Schreibverlängerung, denn das hätte den gesamten Betrieb durcheinander gebracht und zu irgendwelchen Klagen geführt.

Einen weiteren Einzelfall möchte ich natürlich auch noch erwähnen: Der Platz eines anderen DR. L.L.M. war in der 8. Klausur leer, denn der Kollege war zwischenzeitlich – vermutlich krankheitsbedingt – zurückgetreten. Wenn man nach der Klausur mit Hilfe einer juristischen Datenbank feststellt, dass man den Fall anders gelöst hat, als in der Originalentscheidung, kann das schon mal zu einem Nervenzusammenbruch führen. Da ist es sicherlich besser, den Durchgang hinter sich zu lassen, und es mit klarem Kopf beim nächsten Termin einfach nochmal zu versuchen, könnte ich mir zumindest vorstellen.

Eine kleine Analogie aus dem Sport möchte ich dazu auch noch bemühen: Wer beim Dopingtest mit einer verbotenen Substanz erwischt wird, hat Pech gehabt und wird disqualifiziert. Man kann sich diese Mittel allerdings auch krankheitsbedingt, also mit „medizinischer Indikation“ verschreiben lassen. Dann ist natürlich alles in Ordnung und man darf Weltrekorde brechen und sich dafür fürstlich entlohnen lassen. Den Arzt bezahlt man dann aus der Portokasse.