Sachverhalt (stark verkürzt): Der Hamburger Senatsdirektor und Leiter des Presseamtes Erich Lüth hatte im Jahre 1950 über die Presse dazu aufgerufen, einen unter der Regie von Veit Harlan entstandenen Spielfilm zu boykottieren. Harlan war in der NS-Zeit als Regisseur des antisemitischen Films Jud Süß bekannt geworden. Zwischenzeitlich wurde er jedoch vom Schwurgericht, vor dem er wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 angeklagt war, freigesprochen, im Entnazifizierungsverfahren als „Entlasteter“ eingestuft, und als Regisseur wieder zugelasen.
Konkret ging es um die folgende Formulierung:
„Nachdem der deutsche Film im Dritten Reich seinen moralischen Ruf verwirkt hatte, ist allerdings ein Mann am wenigsten von allen geeignet, diesen Ruf wiederherzustellen: das ist der Drehbuchverfasser und Regisseur des Films ‚Jud Süß‘! Möge uns weiterer unabsehbarer Schaden vor der ganzen Welt erspart bleiben, der eintreten würde, indem man ausgerechnet ihn als Repräsentanten des deutschen Films herauszustellen sucht. Sein Freispruch in Hamburg war nur ein formeller. Die Urteilsbegründung war eine moralische Verdammung. Hier fordern wir von den Verleihern und Theaterbesitzern eine Haltung, die nicht ganz billig ist, die man sich aber etwas kosten lassen sollte: Charakter. Und diesen Charakter wünsche ich dem deutschen Film. Beweist er ihn und führt er den Nachweis durch Phantasie, optische Kühnheit und durch Sicherheit im Handwerk, dann verdient er jede Hilfe und dann wird er eines erreichen, was er zum Leben braucht: Erfolg beim deutschen wie beim internationalen Publikum.“
Die Frage, ob ein Vertreter des Staates zum Boykott bestimmter Bürger aufrufen darf, ging bis zum Bundesverfassungsgericht. Nach sieben Jahren intensiven Grübelns kam die Antwort. Diese Antwort ist nicht nur aus rechtstaatlicher Sicht interessant, sondern auch aus historischer, denn genau das hatten wir schon mal. Anders formuliert: Schützt das als Gegenentwurf zum Dritten Reich geschaffene Grundgesetz die Bürger vor solchen Methoden? Die Antwort lautet selbstverständlich Nein. Schauen wir uns an, wie die Verfassungsichter dieses für viele überraschende Ergebnis hergeleitet haben.
Dazu ist erst mal wichtig zu wissen, bei welchem Gericht erstinstanzlich geklagt wurde. Geklagt wurde nicht vor einem Verwaltungsgericht, sondern vor dem Landgerichtgericht. Der Wahl des Rechtswegs hängt – wie ein aktuelles Beispiel belegt – davon ab, ob die Aussage „amtlich“ oder „privat“ getätigt worden war. Im vorliegenden Fall war Lüth als Vorsitzender des „Hamburger Presseclubs“ aufgetreten, demzufolge wurde der Zivilrechtsweg gewählt. Streitentscheidende Norm war § 826 BGB und nicht das „staatliche Neutralitätsgebot“. Lüth unterlag erinstanzlich, legte dagegen Berufung ein und erhob zugleich Verfassungsbeschwerde. Dies ist nur in Ausnahmefällen (§ 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG) möglich, wurde hier aber unproblematisch zugelassen.
Die materielle Urteilsbegründung beginnt damit, dass das Bundesverfassungsgericht seinen Prüfungsauftag bestimmt.
Der Beschwerdeführer behauptet, das Landgericht habe durch das Urteil sein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes verletzt. Das Urteil des Landgerichts, ein Akt der öffentlichen Gewalt in der besonderen Erscheinungsform der rechtsprechenden Gewalt, kann durch seinen Inhalt ein Grundrecht des Beschwerdeführers nur verletzen, wenn dieses Grundrecht bei der Urteilsfindung zu beachten war.
Viele Bürger, insbesondere die empörten, schauen bei Art. 5 GG nur auf den ersten Absatz. Der Haken folgt im nächsten Absatz und heißt „allgemeine Gesetze“. Erlaubt ist nur, was nicht verboten ist. Ein solches Verbot ist grundsätzlich auch in § 826 BGB zu sehen, doch nun kommt die Ausnahme:
Die Problematik des Verhältnisses der Grundrechte zum Privatrecht scheint im Falle des Grundrechts der freien Meinungsäußerung (Art. 5 GG) anders gelagert zu sein. Dieses Grundrecht ist – wie schon in der Weimarer Verfassung (Art. 118) – vom Grundgesetz nur in den Schranken der „allgemeinen Gesetze“ gewährleistet (Art. 5 Abs. 2). Ohne daß zunächst untersucht wird, welche Gesetze „allgemeine“ Gesetze in diesem Sinne sind, ließe sich die Auffassung vertreten, hier habe die Verfassung selbst durch die Verweisung auf die Schranke der allgemeinen Gesetze den Geltungsanspruch des Grundrechts von vornherein auf den Bereich beschränkt, den ihm die Gerichte durch ihre Auslegung dieser Gesetze noch belassen. Das Ergebnis dieser Auslegung müsse, soweit es eine Beschränkung des Grundrechts darstelle, hingenommen werden und könne deshalb niemals als eine „Verletzung“ des Grundrechts angesehen werden.
Dies ist indessen nicht der Sinn der Verweisung auf die „allgemeinen Gesetze“. Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt (un des droits les plus précieux de l“homme nach Artikel 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789). Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist (BVerfGE 5, 85 [205]). Es ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt, „the matrix, the indispensable condition of nearly every other form of freedom“ (Cardozo).
Well, that is certainly interesting. Isn’t it? Das Bundesverfassungsgericht, dessen damaliger Vizepräsident ein Exil-Rückkehrer aus den USA war, bringt damit zum Ausdruck, worum es im Kern geht. Es geht um ein internationales Verständnis von Freiheit, an das sich die Deutschen zu gewöhnen haben.
Aus dieser grundlegenden Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit für den freiheitlich-demokratischen Staat ergibt sich, daß es vom Standpunkt dieses Verfassungssystems aus nicht folgerichtig wäre, die sachliche Reichweite gerade dieses Grundrechts jeder Relativierung durch einfaches Gesetz (und damit zwangsläufig durch die Rechtsprechung der die Gesetze auslegenden Gerichte) zu überlassen. Es gilt vielmehr im Prinzip auch hier, was oben allgemein über das Verhältnis der Grundrechte zur Privatrechtsordnung ausgeführt wurde: die allgemeinen Gesetze müssen in ihrer das Grundrecht beschränkenden Wirkung ihrerseits im Lichte der Bedeutung dieses Grundrechts gesehen und so interpretiert werden, daß der besondere Wertgehalt dieses Rechts, der in der freiheitlichen Demokratie zu einer grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Rede in allen Bereichen, namentlich aber im öffentlichen Leben, führen muß, auf jeden Fall gewahrt bleibt. Die gegenseitige Beziehung zwischen Grundrecht und „allgemeinem Gesetz“ ist also nicht als einseitige Beschränkung der Geltungskraft des Grundrechts durch die „allgemeinen Gesetze“ aufzufassen; es findet vielmehr eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, daß die „allgemeinen Gesetze“ zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.
Konkret sieht das wie folgt aus:
§ 826 BGB verweist auf den Maßstab der „guten Sitten“. Es handelt sich hier nicht um irgendwie vorgegebene und daher (grundsätzlich) unveränderliche Prinzipien reiner Sittlichkeit, sondern um die Anschauungen der „anständigen Leute“ davon, was im sozialen Verkehr zwischen den Rechtsgenossen „sich gehört“. Diese Anschauungen sind geschichtlich wandelbar, können daher – in gewissen Grenzen – auch durch rechtliche Gebote und Verbote beeinflußt werden. Der Richter, der das hiernach sozial Geforderte oder Untersagte im Einzelfall ermitteln muß, hat sich, wie aus der Natur der Sache folgt, ihm aber auch in Art. 1 Abs. 3 GG ausdrücklich vorgeschrieben ist, dabei an jene grundsätzlichen Wertentscheidungen und sozialen Ordnungsprinzipien zu halten, die er im Grundrechtsabschnitt der Verfassung findet. Innerhalb dieser Wertordnung, die zugleich eine Wertrang ordnung ist, muß auch die hier erforderliche Abwägung zwischen dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG und den seine Ausübung beschränkenden Rechten und Rechtsgütern vorgenommen werden.
Für die Entscheidung der Frage, ob eine Aufforderung zum Boykott nach diesen Maßstäben sittenwidrig ist, sind zunächst Motive, Ziel und Zweck der Äußerungen zu prüfen; ferner kommt es darauf an, ob der Beschwerdeführer bei der Verfolgung seiner Ziele das Maß der nach den Umständen notwendigen und angemessenen Beeinträchtigung der Interessen Harlans und der Filmgesellschaften nicht überschritten hat.
Da sind sie wieder, die inneren Tatsachen, hier in Form des zentralen Motivs, „Angst vor dem Rückfall in dunkle Zeiten“. Der Rest der Entscheidung folgt in bekannter und bewährter Art und Weise: Weil der Beschwerdeführer in seinen Augen für das Gute kämpft, ist ihm natürlich keinerlei Vorwurf zu machen.
Die Äußerungen des Beschwerdeführers müssen im Rahmen seiner allgemeinen politischen und kulturpolitischen Bestrebungen gesehen werden. Er war von der Sorge bewegt, das Wiederauftreten Harlans könne – vor allem im Ausland – so gedeutet werden, als habe sich im deutschen Kulturleben gegenüber der nationalsozialistischen Zeit nichts geändert; wie damals, so sei Harlan auch jetzt wieder der repräsentative deutsche Filmregisseur. Diese Befürchtungen betrafen eine für das deutsche Volk sehr wesentliche Frage, im Grunde die seiner sittlichen Haltung und seiner darauf beruhenden Geltung in der Welt. Dem deutschen Ansehen hat nichts so geschadet wie die grausame Verfolgung der Juden durch den Nationalsozialismus. Es besteht also ein entscheidendes Interesse daran, daß die Welt gewiß sein kann, das deutsche Volk habe sich von dieser Geisteshaltung abgewandt und verurteile sie nicht aus politischen Opportunitätsgründen, sondern aus der durch eigene innere Umkehr gewonnenen Einsicht in ihre Verwerflichkeit.
Dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass man an ihn als juristischen Laien bei dem Begriff des „formellen Freispruchs“ keine hohen Anforderungen stellen dürfe. Eine Tatsachenbehauptung habe er nicht getätigt, sondern lediglich eine zusammenfassende inhaltliche Charakterisierung vorgenommen.
Wenn der Beschwerdeführer seinen Eindruck vom Inhalt des schwurgerichtlichen Urteils in die Worte „formeller Freispruch“ und „moralische Verdammung“ zusammengefaßt hat, so geht das nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht über die Grenze des in der öffentlichen Diskussion eines Themas von ernstem Gehalt Zulässigen hinaus. Es bedeutet eine unannehmbare Einengung der Redefreiheit in einer freiheitlichen Demokratie, wenn das Landgericht hier von dem Beschwerdeführer, der nicht Jurist ist, die Sorgfalt sogar eines „strafrechtlich geschulten Lesers“ fordert, die ihn hätte veranlassen müssen, die Kennzeichnung „formeller Freispruch“ zu unterlassen, weil sie nur beim Fehlen objektiver Voraussetzungen der Strafbarkeit angängig sei. Die vom Beschwerdeführer gewählten Bezeichnungen sind keine Tatsachenbehauptungen, deren Wahrheit oder Unwahrheit bewiesen werden könnte; namentlich wird mit der Bezeichnung „formeller Freispruch“ kein eindeutiger rechtlicher Tatbestand bezeichnet. Es handelt sich um eine zusammenfassende, wertende Charakterisierung des gesamten Urteilsinhalts, die für zulässig gehalten werden muß, weil sie weder in der Form verletzend ist noch inhaltlich so sehr den gemeinten Sachverhalt verfehlt, daß sie bei Hörern und Lesern ganz irrige Vorstellungen über den Urteilsinhalt erwecken müßte, wie es etwa der Fall wäre, wenn von einem Freigesprochenen ohne nähere Erläuterung behauptet würde, er sei „verurteilt“ worden.
So schließen die Verfassungsrichter dann auch mit der lapidaten Feststellung:
Das Bundesverfassungsgericht ist auf Grund dieser Erwägungen zu der Überzeugung gelangt, daß das Landgericht bei seiner Beurteilung des Verhaltens des Beschwerdeführers die besondere Bedeutung verkannt hat, die dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung auch dort zukommt, wo es mit privaten Interessen anderer in Konflikt tritt. Das Urteil des Landgerichts beruht auf diesem Verfehlen grundrechtlicher Maßstäbe und verletzt so das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Es ist deshalb aufzuheben.
Demzufolge stellt es im vorliegenden Fall den unmittelbaren Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft und eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt dar, gegen andere Bürger, die eigentlich dieselben Rechte genießen (sollten), zum Boykott aufzurufen und deren Existenz zu ruinieren. So entschieden im Jahre des Herrn 1958, und seither geltende Rechtsprechung. Im Einzelfall heiligt der Zweck die Mittel, aber nur für die Guten.