Die LTO berichtete vor 10 Jahren über ein Urteil des OVG Preußen (PrOGVE 80, 176), das als „Borkumlied-Fall“ in die Lehrbücher eingegangen ist.

Sachverhalt (stark verkürzt): Der Regierungspräsident von Hannover Gustav Noske weist die Kommunalverwaltung an, die Kulturkapelle von Borkum dürfe den „Kaisermarsch“ nicht mehr intonieren, denn er werde von Kurgästen als Anlass zum Absingen des antisemitischen Borkum-Lieds genutzt. Diese Anweisung wurde letztlich vom Preußischen OVG kassiert.

Das Amtsgericht Emden erließ, ohne die Legitimation des Antragstellers zu prüfen, eine einstweillige Verfügung gegen den Staat Preußen, die es bei 100.000 Goldmark Strafe untersagte, das Musizierverbot durchzusetzen.

Irgendwer hatte dagegen einen Eilantrag gestellt und der wurde anscheinened – untypisch schlampig – durchgewunken. So weit, so gut.

Auch abseits der bizarren Verfügung des Amtsgerichts konnten sich die Gegner der antisemitischen Politik Borkums nicht vor Gericht behaupten. Das Preußische Oberverwaltungsgericht, sah im Kommunalverfassungsrecht keine Handhabe, im Wege der Sachaufsicht ein Musizierverbot zu erlassen.

Das war auch nicht ungewöhnlich, denn die Begründung des Preußischen OVG war – zumindest nach damaligen Maßstäben – vertretbar.

Weil die Kurgäste ja auch ohne die Begleitung der passenden Marschmusik das inkriminierte „Borkum-Lied“ gesungen hätten, sei die eigentliche Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht von der Kapelle ausgegangen. Weil der Text im Übrigen auch auf andere Melodien gesungen werden könnte, sei das Musizierverbot polizeirechtlich unangemessen.

Die Richter beurteilten die Kurgäste als Störer, und nicht die Kapelle. So einfach kann Jura sein, wenn man politische Sachzwänge ausblendet.

Zur Einordnung muss man sich jedoch – wie immer bei historischen Vorgängen – in die Sicht der damaligen Zeit zurückversetzen. Die Entscheidung erging im Jahre 1925, in der Weimarer Republik, und drehte sich um den „Kaisermarsch“, einem Synonym für die überkommene Monarchie. Der Text des Liedes bildete dafür nur den polizeirechtlichen Aufhänger, denn das Spielen des Marsches sollte grundsätztlich verboten werden, auch wenn niemand dazu singt. Dass die junge Republik sinnbildlich vor den eigenen Gerichten gegen die alte Monarchie verliert, war unter keinen Umständen hinzunehmen.

Wie kann man den Fall juristisch drehen, so dass das politisch gewünschte Ergebnis herauskommt? Das ist die Lehrbuch-Frage, und nichts anderes.

Die Antwort lautet: „Zweckveranlasser“.

Man entwickelt über die beiden klassischen Kategorien von Verhaltensstörer und Zustandsstörer hinaus eine dritte Störerkategorie, und zaubert sich so einen Tatbestand aus dem Hut, unter den man die Kapelle subsummieren kann. Weil bekannt war, dass zum „Kaisermarsch“ gerne das „Borkum-Lied“ gesungen wird, hat sie sozusagen den Kurgästen (Verhaltensstörer) eine Steilvorlage gegeben und wurde selbst zum Störer. So wird ein Schuh daraus.

Im Jahre 1929 hat sich das Preußische OVG (PrOVGE 85,270) dann auch erstmalig selbst dieser neuartigen Kategorie bedient. Ein Ladenbesitzer hatte leicht bekleidete Damen in einem Schaufenster ausgestellt, worauf es zu einem Menschenauflauf kam, der von der Polizei aufgelöst werden musste. Da dieser schlüpfrige Fall die Möglichkeit bietet, die ansonsten eher dröge Vorlesung aufzulockern, wird er heute beim Thema „Zweckveranlasser“ bevorzugt.